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Parteien auf dem Prüfstand
Studie zeigt: Gute Lage, schlechte Stimmung

Wie bewerten die Wähler das Parteiensystem in Bayern? Trotz guter wirtschaftlicher Lage bestimmen emotionsbesetzte Themen die Debatte: Innere Sicherheit, Flüchtlinge und Zuwanderung. Gleichzeitig sank seit 2001 die Zustimmung zur Demokratie dramatisch auf nur etwas mehr als 50 Prozent und der Anteil der Wechselwähler stieg allein 2016 um knapp ein Drittel. Auch die Zahl der Nichtwähler verdoppelte sich in den letzten sechs Jahren. Die Hanns-Seidel-Stiftung sieht in den aufrüttelnden Ergebnissen eine große Herausforderung für die Demokratie aber auch eine Chance für die politischen Stiftungen als Schulen für Demokraten.

Immerhin 60 % der bayerischen Wähler/innen beurteilen die derzeitige wirtschaftliche Lage in Deutschland überaus positiv, die eigene finanzielle Lage  64%, wobei die Mehrheit von einem Gleichbleiben oder sogar von einer weiteren Verbesserung der Situation ausgeht. Andererseits bieten die bestehenden Verhältnisse 68% der Bayern Anlass zur Beunruhigung, die Hälfte sieht der Zukunft mit Sorge entgegen.  Eine extrem positive Sicht auf die Wirtschaftslage, gleichzeitig allgemeine Sorgen und Zukunftsängste: offenbar belasten die beiden besonders emotionsbesetzten Themenkomplexe Innere Sicherheit und Terrorgefahr (88%) sowie Flüchtlinge und Zuwanderung (84%), als die derzeit mit Abstand wichtigsten bundespolitischen Probleme, die allgemeine Grundstimmung in der Bevölkerung.

Wahlforscher Gerhard Hirscher, Stiftungsvorsitzende Ursula Männle und Studienleiter Helmut Jung

Wahlforscher Gerhard Hirscher, Stiftungsvorsitzende Ursula Männle und Studienleiter Helmut Jung

Klingsbögl; HSS

Jeder Zweite unzufrieden mit Demokratie

Auch die Akzeptanz des politischen Systems ist aktuell auf einem Tiefststand. Seit 2001 ist der Anteil der mit der Demokratie unzufriedenen Bayern von 22% auf 48% angestiegen, während die einigermaßen Zufriedenen nur noch 36% und die sehr Zufriedenen 15% ausmachen. Fundamentale Kritik am System der repräsentativen parlamentarischen Demokratie bleibt aber bisher noch eher die Ausnahme. Gleichzeitig ist der Anteil politisch (sehr) stark Interessierter seit 2001 von 28% auf einen Höchststand von 54% angestiegen, während der Anteil jener, die sich für politisch informiert halten, seit 2003 von 67% auf 44% zurückging. 

Brexit, Trump, Fake News und Berichte über Staatspropaganda dürften bei dieser Entwicklung ebenso eine Rolle gespielt haben wie die weltweit stattfindenden Krisen und die Unübersichtlichkeit und Masse der möglichen Informationsquellen im Rahmen der fortschreitenden Digitalisierung.  Auch die grundsätzlichen Haltungen gegenüber Parteien haben sich geändert. Immerhin gut zwei Drittel der Bayern neigen trotz des sozialen und gesellschaftlichen Wandels, der zur Auflösung einiger,  für Parteien wichtiger sozialer Milieus führte, immer noch grundsätzlich einer Partei zu. Das Bestehen einer Parteiidentifikation bedeutet heute allerdings nur noch eine stark erhöhte Wahlwahrscheinlichkeit für die grundsätzlich bevorzugte Partei. Heute darf dies jedoch nicht mehr als Garantie für die Wahl dieser Partei verstanden werden. Gleichzeitig wird die langfristig sinkende Wahlbeteiligung immer häufiger an aktuellen politischen Vorgängen festgemacht und nicht mehr als „normale“ Entwicklung angesehen. Hinzu kommt, dass auch der Anteil der notorischen Nichtwähler, die angeben, nie oder so gut wie nie zur Wahl zu gehen, seit 2010 von 9% auf 18% angestiegen ist. Während die Gruppe der themenbezogenen Wähler mit 36% mehr als doppelt so groß ist als im Jahr 2010, ist gleichzeitig der Anteil der Bayern, die angeben, fast immer zur Wahl gehen, im gleichen Zeitraum von 67% auf 35% gesunken.

Die Bereitschaft, sich selbst als Wechselwähler einzustufen, ist seit Anfang 2016 von 31% auf 40% angestiegen, obwohl der Anteil der Bayern, die sich als Stammwähler bezeichnen, mit 55% immer noch sehr hoch liegt. Dieser neue Trend zu einer häufigeren Selbsteinstufung als Wechselwähler kann ein Indiz dafür sein, dass die Bereitschaft der Wähler zur Wechselwahl größer geworden ist.  Zwischen allen Parteien lassen sich zudem mehr oder weniger große Überschneidungen ihrer Wählerpotentiale feststellen. Neben der aktuellen Wahlabsicht kommt inzwischen für Wähler einer bestimmten Partei durchschnittlich die Wahl von etwa zwei weiteren Parteien zumindest „unter Umständen“ in Betracht. Nur für jeden Zehnten gibt es keinerlei Wahlalternative zur derzeit gewählten Partei. Da jedoch nicht alle theoretisch denkbaren Wahlalternativen in die Tat umgesetzt werden, dürfte der tatsächliche Stammwähleranteil wohl eher bei 25% bis 30%, also in der Mitte zwischen diesem Zehntel und den bei den Selbsteinstufungen gemessenen Anteilen von mehr als der Hälfte der Stammwähler liegen.

Studienleiter Helmut Jung berät die Gesellschaft für Markt- und Sozialforschung, GMS, in Hamburg.

Studienleiter Helmut Jung berät die Gesellschaft für Markt- und Sozialforschung, GMS, in Hamburg.

Klingsbögl; HSS

Zunehmende Geringschätzung des Kompromisses

Im Hinblick auf die Volksparteien ergibt sich ein ambivalentes Bild. Wahrgenommen werden sowohl Stärken wie Größe, Durchsetzungsvermögen und Gestaltungsmacht (64%) und das breitere personelle (53%) und thematische Angebot (41%) verbunden mit einem Interessenausgleich (32%), als auch Defizite wie Schwerfälligkeit, Inflexibilität (59%) und das Eingehen fauler Kompromisse (64%). Trotz aller Kritik halten nur 22% der Bayern die Volksparteien eindeutig für ein Auslaufmodell. 

Die zunehmende Geringschätzung des Kompromisses in der Politik und der Standpunkt, dass man eine Partei nicht wählen kann, wenn sie bei einem zentralen Thema eine andere Position vertritt (35% ja, 31% teilweise), deuten aber auf eine schwierige Ausgangslage für die Volksparteien hin, insbesondere wenn es um Kompromisse und den Ausgleich konfligierender Interessen innerhalb ihrer Klientel geht.  Bei den kleineren Parteien ergibt sich ein anderes Bild: Für einen erheblichen Anteil der Wählerschaft haben sich die kleineren Parteien als eine Art Gegenmodell zu den Volksparteien einen „gleichberechtigten“ Platz im deutschen Parteiensystem erkämpft. Sie sind weniger auf Kompromisse (56%) angewiesen und üben zumindest Druck auf die etablierten Parteien aus (68%), wenn sie auch selbst nicht unbedingt zur Lösung der Probleme fähig (51%), oft zudem chaotisch (56%) und thematisch (68%) sowie personell (60%) weniger breit aufgestellt sind.

Ursula Männle beobachtet "Veränderungen im Wählerverhalten und der Wahrnehmung der Politik."

Ursula Männle beobachtet "Veränderungen im Wählerverhalten und der Wahrnehmung der Politik."

Klingsbögl; HSS

Höherer Mobilisierungsaufwand oder Chance für die Demokratie

Bei der Beschreibung des Wahlverhaltens ist die früher übliche, einfache Einteilung in Stamm- und Wechselwähler heute angesichts veränderter Einstellungen, schwindender Parteibindungen sowie häufigerer zeitweiser oder dauerhafter Nichtwahl nicht mehr ausreichend. Insbesondere dem Thema der temporären Nichtwahl (36%) sollte in Zukunft eine größere Relevanz beigemessen werden, da dieses eine klare Abgrenzung von notorischer Nichtwahl (19%) erlaubt und zugleich eine differenziertere Sicht auf die Stamm- und Wechselwähler ermöglicht. Insbesondere die „temporäreren Stammwähler“ (18%), die sich zwar grundsätzlich zu einer Partei bekennen, aber nur in Abhängigkeit von der subjektiven Relevanz der jeweils anstehenden Wahl überhaupt an die Wahlurne treten, bedeuten für Parteien einen erhöhten Mobilisierungsaufwand, aber auch eine Chance. 

„Die Ergebnisse der Studie bestätigen und belegen Veränderungen im Wählerverhalten und der Wahrnehmung der Politik in der Bevölkerung, wie wir das schon seit einiger Zeit beobachten“, sagt Ursula Männle, Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung. „Gerade deswegen ist der Auftrag der Stiftungen zur politischen Bildung heute so wichtig wie nie. Auf die Veränderungen werden wir noch mehr als bisher reagieren und verstärkt für die aktive Teilnahme und das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an unserer Demokratie werben. Ich appelliere an die Menschen, von ihrem demokratischen Grundrecht zur Wahl auch Gebrauch zu machen!“

Zur Methodik: Insgesamt wurde in der Zeit vom 31. Oktober bis zum 24. November 2016 durch die auch für die Konzeption verantwortliche GMS Dr. Jung GmbH, Hamburg, mittels computergestützter Telefoninterviews (CATI) auf Basis einer Zufallsstichprobe ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung Bayerns ab 16 Jahren befragt. Dabei wurden 2.063 Interviews realisiert. Die durchschnittliche Interviewdauer betrug ca. 30 Minuten.

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Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Hubertus Klingsbögl
Leiter
Leiterin Kommunikation, Öffentlichkeitsarbeit, Onlineredakion

Susanne Hornberger