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Geostrategische Schwerpunkte der russischen Außenpolitik
Teil I: Russland und die Ukraine

Russland ist wieder ein Faktor der internationalen Politik. Oft ist aber nicht deutlich, welche Ziele man im Kreml verfolgt. Das erklärt hier unser Russland-Experte Jan Dresel Punkt für Punkt: von der Ukraine bis zum Verhältnis zur NATO und zu China.

Russland hat seit dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder globale politische Relevanz gewonnen. In Moskau leitet Jan Dresel seit 2016 das Auslandsbüro der Hanns-Seidel-Stiftung. Er sieht fünf Themen im Zentrum der aktuellen russischen Außenpolitik: Der Krieg in der Ostukraine auf der einen und das Verhältnis zur EU und der NATO auf der anderen Seite, die russische Rolle in Syrien sowie die Beziehungen zu China. In einem Vortrag vor Experten für internationale Politik und Medienvertretern in München erklärte er, wie diese fünf Themen zusammenhängen. Wir präsentieren Ihnen hier den kompletten Vortrag.

Der Ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj, steht wegen seines Entgegenkommens Russland gegenüber unter großem Druck. Noch im Oktober demonstrierten in 30 Städten der Ukraine Tausende unter dem Motto: "Kapitulation stoppen!"

Russland und die Ukraine

Beginnen möchte ich mit der Thematik, die aktuell wieder im Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit steht und in die zuletzt wieder Bewegung gekommen ist - nämlich mit der Situation in der Ostukraine. Ohne im Detail auf die Chronologie der Entwicklungen auf der Krim und in der Ostukraine seit dem Jahr 2014 eingehen zu wollen, die Ihnen sicherlich bekannt sind, ist es aus meiner Sicht doch wichtig, sich noch einmal die jüngsten Entwicklungen in der Ostukraine in Erinnerung zu rufen.

Nur gut einen Monat nachdem Wolodymyr Selenskyj im Mai dieses Jahres sein Amt als ukrainischer Präsident angetreten hatte, begann am 30. Juni auf ukrainische Initiative hin die Truppenentflechtung in Stanyzja Luhanska. Die neue Dynamik im Minsk-Prozess setzte sich im September fort, als ein bilateral ausgehandelter Gefangenenaustausch zu einer weiteren Verbesserung der Gesprächsatmosphäre zwischen der Ukraine und Russland führte.

Ein freundlich blickender Mann an einem Schreibtisch mit dem Füller in der Hand. An der Wand hinter ihm eine große Weltkarte, auf der Russland hervorgehoben ist.

HSS

Jan Dresel leitet seit Ende 2016 das Auslandsbüro Moskau der Hanns-Seidel-Stiftung. Davor war er 13 Jahre Jahre lang für privatwirtschaftliche Unternehmen insbesondere auf den europäischen Märkten und in Russland tätig. Neben anderen Führungsaufgaben in Vertrieb und Marketing war er dafür verantwortlich, weltweite Netze von Handelsvertretern und Distributoren aufzubauen und Vertragsverhandlungen mit Kunden und Lieferanten erfolgreich abzuschließen. Nach zehn Jahren in Italien traf er 2014 die Entscheidung, seine umfassende internationale Erfahrung in Moskau zu nutzen, wo er von Anfang 2015 bis Ende 2016 das German Desk einer russischen Wirtschaftskanzlei leitete. Als Vertreter der Hanns-Seidel-Stiftung in der Russischen Föderation setzt er heute alles daran, einer weiteren Entfremdung zwischen Deutschland und Russland entgegenzuwirken und trotz der schwierigen politischen Lage hochrangige Politiker, Wissenschaftler und Nachwuchskräfte aus beiden Ländern miteinander ins Gespräch zu bringen.

Am 1. Oktober schließlich gelang in der Trilateralen Kontaktgruppe die Einigung auf die „Steinmeier-Formel“, die das Inkrafttreten des Sonderstatus für den Donbass regelt - vorbehaltlich der Bestätigung seitens der OSZE, dass dort freie Wahlen in Übereinstimmung mit ukrainischen Gesetzen und OSZE-Standards stattgefunden haben. Außerdem einigte man sich auf Entflechtung - d.h. Abzug von Truppen und Militärtechnik inklusive Befestigungsanlagen - in Solote und Petriwske. Daran hatte Russland seine Teilnahme an einem neuen Treffen im Normandie-Format geknüpft, das dann auch tatsächlich am 9. Dezember 2019 in Paris stattfand und auf das ich gleich noch zu sprechen kommen werde.

Bei all diesen positiven Entwicklungen bleibt eines zu bedenken: Selenskyj steht innenpolitisch wegen seines Entgegenkommens den russischen Forderungen gegenüber enorm unter Druck. An zwei verschiedenen Tagen Mitte Oktober demonstrierten in mehr als 30 ukrainischen Städten Tausende Menschen unter dem Motto „Kapitulation stoppen!“. Es gibt noch keine Einigung über die genaue Ausgestaltung des neu auszuformulierenden Sonderstatusgesetzes, die Waffenruhe wird nach wie vor nur teilweise eingehalten und die humanitäre Lage an der Kontaktlinie bleibt insgesamt desolat - auch wenn zuletzt Fortschritte erzielt wurden wie etwa die Wiedereröffnung der zuvor zerstörten Brücke bei Stanyzia-Luhanksa. Diese erleichtert es der Zivilbevölkerung erheblich, die Kontaktlinie zu überqueren, was angesichts des nahenden Winters unter humanitären Gesichtspunkten besonders wichtig ist.

Trotz dieser schwierigen innenpolitischen Gemengelage hält der sich stets eher zuversichtlich präsentierende Staatspräsident Selenskyj ein „Einfrieren“ des Konfliktes für möglich. Er nutzte die Investment-Konferenz „RE:THINK-Forum“ Ende Oktober in Mariupol, um drei Phasen für die Beendigung des Konfliktes zu nennen: 1. Das Ende der „heißen Phase“; 2. „Versöhnung zwischen den Menschen“; 3. „Reintegration in aller Sicherheit“.

In Russland ist man sich durchaus der Tatsache bewusst, dass Selenskyj - aus welchen Gründen auch immer - zu Zugeständnissen bereit ist, die zuvor unter Expräsident Poroschenko undenkbar erschienen. Trotzdem macht sich in den russischen Staatsmedien und zunehmend auch in der Öffentlichkeit das Narrativ breit, Selenskyij sei ein Blender und Lügner und versuche in Wirklichkeit nur, Vorteile für die Ukraine bei der Auslegung der Steinmeier-Formel zu erreichen - also bei der Frage, ob zuerst Wahlen stattfinden sollen oder die Ukraine zuvor die Kontrolle über ihre Ostgrenze zurückerhalten soll.

Wie ist vor diesem Hintergrund nun das jüngste Vierer-Treffen im Normandie-Format einzuordnen? Die Bundesregierung formuliert es auf ihren Internetseiten vorsichtig optimistisch: Die „Zeit des Stillstands“ sei „überwunden“. Immerhin haben sich Merkel, Macron, Putin und Selenskyj auf einen vollständigen Waffenstillstand in der Ostukraine bis Ende 2019 und auf weitere Schritte zur Deeskalation der Lage in der Region geeinigt. So wurden ein Gefangenenaustausch noch im Dezember 2019, ein Abzug schwerer Waffen aus dem Gebiet sowie eine weitere Entflechtung von Truppen und Ausrüstung bis März 2020 vereinbart. Doch der ganz große Wurf, eine Einigung über den Status der umkämpften Gebiete, die Modalitäten für Wahlen und damit die Chance auf dauerhaften Frieden in der Ostukraine, ist zumindest diesmal noch nicht gelungen.

Wichtig ist jetzt, die derzeitige Dynamik im Minsk-Prozess weiter zu nutzen und weiter an vertrauensbildenden Maßnahmen zu arbeiten. Konkret müssen die humanitäre Situation der Menschen in der Ostukraine weiter verbessert, die Infrastruktur weiter instandgesetzt und die Sicherheit effektiver gewährleistet werden. Nur so können die Voraussetzungen für weitere politische Schritte auf dem Weg zur Umsetzung der Minsker Abkommen geschaffen werden. Und: In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass ein wohlüberlegtes Vorgehen und detaillierte Schritte am ehesten echte Verbesserungen für die Menschen in der Ostukraine bewirken. Vielleicht schafft man beim nächsten Vierer-Gipfel in Berlin in vier Monaten einen Durchbruch - zu wünschen wäre es zuallererst den Menschen, die in den umkämpften Gebieten leben. Dazu müssen sich aber alle Konfliktparteien bewegen - es bleibt abzuwarten, ob nach Selenskyjs Initiative nun auch die russische Seite dazu bereit ist.

Und hier schließt nahtlos der zweite thematische Schwerpunkt meines Vortrags an, bei dem das russische Verhalten gegenüber der Ukraine ebenfalls eine gewisse Rolle spielt, nämlich das Verhältnis Russlands zur Europäischen Union.

In Kürze setzen wir die Reihe an dieser Stelle fort.

 

Autor: Jan Dresel, Leiter des Büros der HSS in Moskau.

Jan Dresel, Regionalprojekt Frieden und Demokratie in Osteuropa
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