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Interview mit Nordafrika-Experte Dr. Said AlDailami
Tunesien - Demokratie ohne Ertrag?

Die Ursprungsenergie des sogenannten Arabischen Frühlings ist verhallt – viele Länder des arabischen Umbruchs sehen sich heute nicht auf dem Weg zu einem demokratischen System, sondern im Angesicht von politischen Verwerfungen und Gewalt. Lediglich in Tunesien ist es bisher einigermaßen ruhig geblieben. Dieser Umstand veranlasst vor allem westliche Beobachter dazu, in Tunesien eine Erfolgsgeschichte des demokratischen Übergangs zu sehen. Jedoch ist auch hier die erhoffte große Zeitenwende bisher ausgeblieben. Da zudem die wirtschaftlichen Erwartungen der Bevölkerung an den Umbruch bisher nicht erfüllt werden konnten, wächst der Frust - insbesondere junger Tunesier - darüber, dass „alles umsonst“ gewesen sein soll.

Dr. Said AlDailami leitet seit Oktober 2014 für die Hanns-Seidel-Stiftung das Regionalbüro Tunesien, Algerien und Libyen in Tunis.

Dr. Said AlDailami leitet seit Oktober 2014 für die Hanns-Seidel-Stiftung das Regionalbüro Tunesien, Algerien und Libyen in Tunis.

HSS; HSS

Die Reihe „Perspektivwechsel: Auslandsmitarbeiter der Hanns-Seidel-Stiftung berichten“ hat in der Veranstaltung am 20. September 2017 die Realität in Tunesien sechs Jahre nach der Revolution in den Blick genommen. Im Interview reflektiert der Tunesien-Kenner Dr. Said AlDailami, Auslandsmitarbeiter der HSS in Tunesien, Algerien und Libyen, wie sich die aktuelle politische und wirtschaftliche Lage in Tunesien darstellt, vor welchen Herausforderungen die Gesellschaft und die Regierung stehen und welche Entwicklungen in Tunesien in der Zukunft denkbar sind.

Hanns-Seidel-Stiftung: „Dr. AlDailami, Sie arbeiten seit vielen Jahren für die Hanns-Seidel-Stiftung für das Regionalbüro Tunesien, Algerien und Libyen. Besonders Tunesien gilt als Erfolgsmodell für den demokratischen Transformationsprozess nach dem sogenannten Arabischen Frühling. Wie bewerten Sie die politischen Entwicklungen im Land sechs Jahre nach der Revolution?“

„Tunesien befindet sich sechs Jahre nach der Revolution mitten im Transformationsprozess. Dies bezieht sich nicht nur auf Wandlungen im politischen Bereich – vor allem die Forderung nach wirtschaftlicher Würde, ein zentrales Anliegen der Revolutionsbewegung, wurde bisher enttäuscht. Auf die Hoffnungen, die viele Tunesier mit dem Umbruch im Jahr 2011 verbanden, folgt nun eine Periode der Unsicherheit. Die Aushandlungsprozesse, welche in einer Transformationsphase notwendig sind, scheinen vielen Tunesiern undurchsichtig und langwierig; das Vertrauen in die politischen Eliten ist verloren. So entsteht eine Gleichgültigkeit der Bürger gegenüber politischer Teilhabe und die staatliche Autorität wird infrage gestellt. Dies führt zu Gegenmaßnahmen der Regierung, wie zum Beispiel das ständige Verlängern des Ausnahmezustandes. Das erlaubt es dem Staat, Maßnahmen zu ergreifen, die etwa Demonstrationen oder Unruhen, besonders im Süden des Landes, unterbinden sollen.

Diese Entwicklungen müssen kritisch hinterfragt werden. Die neue tunesische Verfassung gesteht den Bürgern umfassende Rechte zu, die diese nun auch wahrnehmen wollen. Damit diese Rechte voll ausgeschöpft werden können, muss sich aber auch die Wirtschaft erholen. Hier tut sich bereits einiges. Besonders in Tunis ist ein Zuwachs an Investitionen aus dem Ausland und das Aufkeimen einer lebendigen Start-Up Szene zu beobachten. Hinzu kommt, dass sich die Tourismusbranche im Jahr 2017 leicht erholen konnte. Gerade in diesem für das Land so wichtigen Bereich ist man allerdings noch sehr weit entfernt von den Besucherzahlen im Jahrzehnt vor der Revolution.  Die entscheidenden Erfolge feiert Tunesien im politischen Bereich: Neben der vorbildlichen Verfassung wurden gerade in den letzten Monaten wichtige Entscheidungen und Gesetze zur Verbesserung der Frauenrechte beschlossen und die anstehenden Kommunalwahlen lassen auf das langsame Erwachsen einer „Demokratie von unten“ hoffen. Hierunter fällt auch die Entscheidung, ab diesem Schuljahr Unterricht zum Thema Wahlen in die Lehrpläne zu integrieren – insgesamt tut sich also eine Menge im Land.“

HSS: „Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Zukunft Tunesiens?“

„Zunächst ist für die Weiterführung des demokratischen Transformationsprozesses die Dezentralisierung ein wichtiges Verfassungsziel. Neben der Nationalregierung sollen regionale und kommunale Vertretungen die Nähe zum Bürger herstellen. Die Hauptstadt ist zu weit weg von den Problemen der Menschen im Landesinnern und im Süden des Landes. Die Dezentralisierung dürfte – wenn sie richtig umgesetzt werden sollte – dazu beitragen, die große Kluft zwischen den wirtschaftspolitischen Eliten in den Großstädten entlang der Küste Tunesiens und der Bevölkerung im Rest des Landes zu verringern. Ein Meilenstein auf diesem Weg wären die für Dezember 2017 angesetzten Kommunalwahlen gewesen. Wie es aussieht, werden diese jedoch wieder einmal verschoben. Neuer Termin soll der 25. März 2018 sein.

Neben den Entwicklungen hin zu einer demokratischen Staatsform ist jedoch auch die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation insbesondere für junge Menschen von herausragender Bedeutung. Solange fast die Hälfte der jungen Tunesierinnen und Tunesier keine Arbeit finden kann, bieten sich für die jungen Menschen in ihrem Heimatland keine Perspektiven. Dies fördert nicht nur innere Resignation und Desinteresse an politischen Prozessen, was langfristig zur Ablehnung der Demokratie führen kann, sondern steigert auch die Attraktivität von Ideologien terroristischer Organisationen und den Wunsch auszuwandern. Die Losung „unter Ben Ali war alles besser“ ist in der Öffentlichkeit nicht selten zu vernehmen. 

Im Wirtschaftsbereich ist der Reformdruck immens. Dies betrifft zum einen die Staatsfinanzen: Tunesien leidet unter seinem aufgeblasenen und ineffektiven Staatsapparat sowie unter einem komplizierten und kaum funktionierenden Steuersystem. Die Staatskassen sind leer und das Land bleibt nur durch massive Anleihen bei internationalen Geld- und Kreditgebern handlungsfähig. Reformen sind daher dringend nötig – nicht zuletzt, weil die Geber wie der Internationale Währungsfonds diese Reformen zur Auflage ihrer Hilfen machen. Einschnitte bei den staatlichen Ausgaben drohen jedoch, den sozialen Frieden im Land zu gefährden. Eine gleichzeitige stärkere Anbindung Tunesiens an den europäischen Markt ist daher ein weiterer Mechanismus, der Tunesiens wirtschaftliche Probleme lindern und zu der dringend notwendigen Belebung der Wirtschaft führen kann.“

 

Der demokratische Aufbruch in vielen Ländern des "arabischen Frühlings" hat sich festgefahren.

Der demokratische Aufbruch in vielen Ländern des "arabischen Frühlings" hat sich festgefahren.

jorisamonen; CC0; Pixabay

HSS: „Welche Rolle spielt Deutschland in dieser demokratischen Transformation Tunesiens und wie wird dieses Engagement seitens der Tunesier bewertet?“

„Deutschland und das deutsche Engagement werden in Tunesien sehr positiv wahrgenommen. Deutschland kooperiert in unterschiedlichsten Formaten schon langjährig und beständig mit Tunesien. Die stetige Unterstützung auch in schwierigen Perioden wird von den Tunesiern hoch geschätzt. Insbesondere die deutschen politischen Stiftungen und die GIZ sind in Tunesien sehr aktiv und höchst willkommen. Sowohl die Hanns-Seidel-Stiftung als auch die Konrad-Adenauer-Stiftung, die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Friedrich-Naumann-Stiftung sind schon seit mehreren Jahrzehnten im Land aktiv. Mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung, die die Präsenz der deutschen politischen Stiftungen in Tunesien nach 2011 komplettierten, können die politischen Stiftungen den Transformationsprozess nun sehr nachhaltig und umfassend unterstützen. Auch der Freistaat Bayern beteiligt sich an der Unterstützung der Demokratisierung Tunesiens. Seit 2012 existiert ein Kooperationsabkommen zwischen dem Freistaat und der Republik Tunesien. Er wurde im Jahr 2015 um weitere drei Jahre verlängert und schließt Bereiche wie Justizreform, duale Ausbildung und die Bekämpfung von Jugendradikalität ein. Die HSS profitiert ebenfalls von zwei durch Bayern  großzügig geförderte Projekte: die Unterstützung des tunesischen Parlaments und der Aufbau von Zentren zur zivilgesellschaftlichen Netzwerkbildung und Förderung der partizipativen Demokratie.“

„Die Hanns-Seidel-Stiftung ist seit 1989 in Tunesien tätig und unterstützt sowohl staatliche Reformprojekte als auch nicht-staatliche Organisationen. Welche Bandbreite deckt die HSS in ihrer Arbeit ab?“

„Nachdem sich das Bestätigungsfeld der politischen Stiftungen nach 2011 rasant erweitern konnte, umfasst die Arbeit der HSS in Tunesien nun unterschiedlichste Bereiche. Unsere Partner sind staatliche Einrichtungen, zivilgesellschaftliche Organisationen, Universitäten und Richterverbände. Diese arbeiten in unseren zentralen Themengebieten: Verwaltungsreform und Dezentralisierung, wirtschaftliche und regionale Entwicklung, Stärkung der Rolle von jungen Menschen und Frauen, politische Teilhabe, Justizreform, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit.

Um einige ganz konkrete Beispiele zu nennen: im Schwerpunkt politische Teilhabe hat die HSS zum Beispiel Aus- und Fortbildungen für junge Parteimitglieder aller Parteien gefördert, in denen diese zu politischen Systemen, zum Thema Wahlen und zur Dezentralisierung geschult wurden. Die so ausgebildeten Teilnehmer können dann als Multiplikatoren ihr neu erlerntes Wissen nutzen und weitergeben. Im Schwerpunkt Dezentralisierung hat die HSS unter anderem tunesische Dezentralisierungsexperten gefördert, die einen ersten Entwurf des Gesetzes zur Neugliederung der lokalen Gebietskörperschaften ausgearbeitet haben. Weiterhin hat die HSS Richter in Aus- und Fortbildungen in ihren Kompetenzen gestärkt und in Seminaren und Tagungen Diskussionsschwerpunkte im Bereich der Unabhängigkeit der Justiz in den politischen Diskurs eingebracht.

In unserer täglichen Arbeit mit den Organisationen vor Ort legen wir einen Fokus auch auf den Aspekt „local ownership“. Das bedeutet, dass die Entscheidung und der Wille zum Anstoß von Veränderungsprozessen aus den Partnerorganisationen vor Ort erwachsen müssen. Wir begleiten diesen Prozess mit Rat und Tat.“

HSS: „Der politische Islam sorgt in Europa für Beunruhigung. In Tunesien scheinen sich die islamischen und die säkularen Kräfte zu versöhnen. Wie bewerten Sie diesen Prozess?“

„Tunesien ist in der arabischen Welt ein Ausnahmephänomen in dieser Frage, zumindest bisher. Die Durchsetzung eines laizistisch geprägten Systems in einem arabischen Land ist Habib Bourguiba, dem ersten Präsidenten nach der Unabhängigkeit, offensichtlich geglückt. Dass dies nicht ohne erhebliche Kosten realisierbar war, wurde nicht zuletzt unter dem nachfolgenden Regime Ben Alis sichtbar. Der Anschluss an den Westen und die damit verbunden geglaubte Moderne war der Bevölkerung gegen innere Widerstände von oben aufgezwungen worden. Die unter Bourguiba und Ben Ali aufgewachsenen Generationen wurden in dem Glauben erzogen, dass Fortschritt nur mit einer Integration in die westliche Sphäre zu erreichen sei und unter Ausschluss islamischer oder islamistischer Akteure. Eine Bewegung wie die islamische „Ennahdha“, welche sich beteiligt sehen wollte, wurde von Bourguiba und Ben Ali konsequent – mit wenigen Zugeständnissen am Anfang der Ben Ali-Ära – aus der Politik ausgeschlossen. 

Nach 2011 bot sich jedoch auch für die islamischen Kräfte in Tunesien wieder eine Plattform zur Meinungsäußerung. Der Erfolg der Ennahdha, die sich nunmehr als offizielle Partei präsentieren konnte, zeigt, dass in Tunesien auch konservativere Stimmen zum Meinungsspektrum gehören.  Die Ennahdha schnitt in den Wahlen von 2014 erneut so gut ab, dass sie nun zusammen mit der säkularen Nidaa Tounes Partei die Regierung stellt. Nach den Verhandlungen zwischen diesen beiden unterschiedlichen Parteien zeigte sich, dass sich aufgrund der politischen „Zwangsehe“ nun beide Parteien in Richtung Mitte bewegen.

Diese funktionierende Koalition ist exemplarisch für eine wirklich demokratische Entwicklung Tunesiens: Dass zwei ursprünglich verfeindete Akteure sich nun zu Kompromissen zusammenfinden müssen und dies auch tun, ist eine Entwicklung, auf die Tunesien stolz sein kann und die die größte Stärke des Transformationsprozesses darstellt. Dies könnte ein Weg sein, der auch anderen arabischen Staaten bei einer Demokratisierung als Modell dienen könnte.“

HSS: „Nichtsdestotrotz bestehen in Tunesien weiterhin große gesellschaftliche Spannungen und Widerstände gegen Erneuerungs- und Reformbestrebungen. Kann dies auf die Staatsreligion, den Islam, zurückzuführen sein und, wenn ja, wäre nicht eine Reform des Islams nötig, um gesellschaftliche und politische Reformen umsetzen zu können? “

„Die Vorannahme, die aus dem Westen heraus projiziert wird, dass eine Islamreform mit einer Politikreform gleichzusetzen sei, ist falsch. Wie sich auch in Tunesien zeigt und in der Vergangenheit gezeigt hat, ist die Politik stärker als die Religion. Dies wird deutlich in der Marginalisierung der islamischen Akteure unter Bourguiba und Ben Ali. Dies heißt nicht, dass zwischen Politik und Religion keine Verbindung besteht, sondern vielmehr, dass Religion durch Politik instrumentalisiert werden kann und stets über die gesamte arabische Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts instrumentalisiert worden ist.

In allen arabischen Ländern dominiert die Politik die Religion und nutzt sie hauptsächlich als Legitimationsinstrument. Ich plädiere daher für eine Reform des Politischen und nicht für eine Reform der Religion.“

HSS: Dr. AlDailami, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Naher Osten, Nordafrika
Claudia Fackler
Leiterin
Süd-/Südostasien
Stefan Burkhardt
Leiter