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Diskussion und Interview mit Bundesminister Dr. Gerd Müller
Umdenken - Fragen an die Entwicklungszusammenarbeit der EU

Europa ist angesichts globaler Krisen mehr denn je gefragt, Verantwortung zu übernehmen. Die Welt steht vor einer ganzen Reihe von Problemen: Aktuell beherrscht zwar die Covid-19-Pandemie die Schlagzeilen, aber Hunger, politische Instabilität, Flucht und Migration oder der Klimawandel sind kein bisschen weniger drängend als vor Corona. Wir konnten den Bundesminister für Sie befragen.

In seinem Buch „Umdenken – Überlebensfragen der Menschheit“ skizziert Dr. Gerd Müller die globalen Krisen und Herausforderungen, deren Bewältigung existenziell für unsere Zukunft sein wird. Dabei hebt er die Bedeutung eines starken Europas als internationale Gestaltungsmacht und Werteunion hervor. Wir nahmen die Thesen des Buches zum Anlass, um über Europas Rolle bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen und seine Beziehungen zu den Ländern des globalen Südens, insbesondere zum afrikanischen Kontinent, zu diskutieren.

Highlights der Diskussion

Diskussion bei der HSS mit (v. r. n.l.): Markus Ferber, MdEP, Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung, Dr. Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und Autor des Buches „UMDENKEN – Überlebensfragen der Menschheit“ , Dr. Susanne Luther, Leiterin des Insituts für Internationale Zusammenarbeit, HSS, und Prof. Dr. Werner Weidenfeld, Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Universität München

Am Rande der Veranstaltung hatten wir die Gelegenheit, Minister Gerd Müller für Sie zu befragen.

HSS: In Ihrem Buch "Umdenken - Überlebensfragen der Menschheit" fächern Sie ein ganzes Spektrum globaler Bedrohungen und existenzieller Notlagen auf und vermitteln dennoch die Überzeugung, dass die globalen Probleme lösbar sind. Welche Beobachtungen und Erkenntnisse, die Sie in Ihrer bisherigen Amtszeit gewonnen haben, geben Ihnen Anlass zu Optimismus?

Dr. Gerd Müller: Auf meinen Reisen habe ich gesehen: Wir haben das nötige Wissen und die Technologien, die globalen Herausforderungen wie Gesundheit oder den Klimaschutz zu bewältigen und eine Welt ohne Hunger zu schaffen. Das ist auch eine moralische Verpflichtung. Denn alle Menschen auf der Welt haben ein Anrecht auf ein Leben in Würde. Ein Beispiel: 130 Millionen Menschen fallen durch die Coronakrise in Hunger und Armut zurück. Jeden Tag verhungern 15.000 Kinder. Wir können und müssen das ändern. Deswegen sage ich auch: Hunger ist Mord. Denn der Planet hat die Ressourcen, 10 Milliarden Menschen zu ernähren. Internationale Studien zeigen: mit einer grünen Agrarrevolution und Investitionen von jährlich 14 Milliarden Dollar zusätzlich durch die Industrieländer lässt sich das Ziel in den nächsten 10 Jahren erreichen. Das ist viel, aber machbar, wenn der Wille da wäre. Katar baut für viele Milliarden Dollar klimatisierte Fußballstadien in der Wüste, was ich für einen Irrsinn halte. 2.000 Milliarden Dollar gibt die Welt jährlich für Rüstung und Verteidigung aus. Gemeinsam mit vielen Hilfsorganisationen kämpfe ich dafür, das zu ändern.

Müller, vor einem Globus, lächelt

Dr. Gerd Müller ist seit 2013 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Seit 1994 ist er direkt gewählter Abgeordneter im Deutschen Bundestag für den Wahlkreis Kempten, Oberallgäu und Lindau. Von 1989 bis 1994 war er Mitglied des Europäischen Parlaments.

Janine Schmitz; BMZ Pool

HSS: Welche Rolle kann und sollte Ihrer Ansicht nach die Europäische Union bei der Lösung der globalen Probleme spielen?

Brüssel muss viel stärker über die EU-Grenzen hinausdenken. Ich frage mich zum Beispiel: Wo ist das europäische Pandemie- und Recovery-Programm für unsere unmittelbare Nachbarschaft in Afrika oder Nahost? Fast 2.000 Milliarden Euro hat Brüssel zur Bekämpfung der Coronakrise beschlossen - davon geht aber kein einziger zusätzlicher Eurocent in die Stabilisierung von Entwicklungsländern. Dort hat das Virus bereits eine dramatische Hunger- und Wirtschaftskrise ausgelöst. Experten schätzen, dass allein in Afrika eine Million Menschen zusätzlich an Malaria, Aids und anderen Erkrankungen sterben könnten, weil es keine Medikamente gibt und Impfkampagnen nicht stattfinden. Dazu kommt Hunger, weil Lieferketten ausgefallen sind und dort Arbeitsplätze über Nacht wegbrechen. Dutzende Länder stehen so kurz vor dem Staatsbankrott. Wie Tunesien oder der Libanon, der 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen hat. Es liegt in unserem ureigenen Interesse, dass wir diese Länder direkt vor unserer Haustür stabilisieren. Deutschland hat mit einem weltweiten 3-Milliarden-Sofortprogramm gehandelt. Notwendig wäre jetzt ein europäisches Stabilisierungs- und Wiederaufbauprogramm mit mindestens 50 Milliarden Euro an Krediten und Hilfen für die am härtesten von der Krise betroffenen Entwicklungsländer.

HSS: Die EU-Kommission hat im März diesen Jahres die Grundlagen einer neuen EU-Afrika- Strategie vorgestellt, die eine engere Partnerschaft mit dem afrikanischen Kontinent vorsieht. Welche Bedeutung kommt der europäisch-afrikanischen Zusammenarbeit angesichts der globalen Probleme zu?

Afrika ist eine Jahrhundertaufgabe für Europa. Wir brauchen eine Zusammenarbeit in völlig neuer Dimension. Da geht es um faire Handelsbeziehungen, den globalen Klimaschutz und einen Compact gegen den wieder zunehmenden Hunger und Armut. Außerdem müssen wir Migration regeln und begrenzen, gleichzeitig aber auch legale Wege der Zuwanderung aufzeigen. Und wir brauchen eine neue Sicherheitspartnerschaft, damit Afrika seine Konflikte künftig selbst lösen kann. Dabei sollten wir noch stärker auf die Eigenverantwortung unserer Partner bauen. Brüssel muss dazu institutionell und finanziell umsteuern. Der aktuelle Haushaltsansatz von weniger als 10 Prozent für Außen- und Entwicklungspolitik muss erhöht werden. Und Europa sollte durch die Gründung einer eigenen Investitions- und Entwicklungsbank eine neue Qualität der wirtschaftlichen Zusammenarbeit entwickeln. Aber vor allem geht es um eine grundlegende Veränderung der europäischen Politik.

„Afrika ist eine Jahrhundertaufgabe für Europa. Wir brauchen eine Zusammenarbeit in völlig neuer Dimension“ (Dr. Gerd Müller)

„Afrika ist eine Jahrhundertaufgabe für Europa. Wir brauchen eine Zusammenarbeit in völlig neuer Dimension“ (Dr. Gerd Müller)

 HSS: Gute Anknüpfungspunkte für eine Partnerschaft auf Augenhöhe zwischen der Europäischen und der Afrikanischen Union (AU) scheinen im Bereich der Erneuerbaren Energien gegeben. Die EU-Kommission hat jüngst mit dem "Europäischen Grünen Deal" einen Fahrplan zu einer nachhaltigen EU-Wirtschaft vorgestellt. In Ihrem Buch plädieren Sie für eine "Energiepartnerschaft" mit Afrika - Was kann die EU tun, um die notwendigen Entwicklungssprünge auszulösen? Stehen afrikanische Länder in den Startlöchern?

Der internationale Klimaschutz ist neben der Welternährung die Überlebensfrage der Menschheit. Ob wir die Erderwärmung stoppen können, entscheidet sich maßgeblich in Afrika. Dort haben 600 Millionen Menschen noch keine Steckdose. Wenn alle Strom auf Basis von Kohle bekommen, müssten hunderte Kohlekraftwerke gebaut werden - mit dramatischen Folgen für uns alle. Weltweit sind über 800 dieser Klimakiller bereits im Bau oder in Planung. Das zusätzliche CO2 könnte man in Europa auch durch noch so konsequente Maßnahmen gar nicht einsparen. Die Antwort muss daher ein ehrgeiziges Investitionspaket der EU für den Ausbau erneuerbarer Energie in Afrika sein. Die EU sollte dazu ihren Green Deal um eine Afrika-Komponente erweitern, um dort erneuerbare Energien und klimaneutrale Kraftstoffe zu fördern. Wir zeigen derzeit in Marokko, dass es geht und errichten die erste großtechnische Anlage, um mit der Sonne Afrikas günstig grünen Wasserstoff und Methanol zu produzieren. Das benötigen wir dringend für die weltweite Verkehrs- und Energiewende. Die deutsche Wirtschaft könnte so einen vollkommen neuen Zukunftsmarkt erschließen. Das schafft Arbeitsplätze - auch bei uns - und wäre ein sehr wirksamer Beitrag zum Klimaschutz. Deswegen müssen wir Entwicklung viel stärker als Investition in unsere eigene Zukunft sehen.

5. Die Situation im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos hat wieder auf dramatische Weise das Fehlen einer gemeinsamen Haltung und gemeinsamen Handelns der europäischen Staaten deutlich gemacht. Kann Europa seinem moralischen Anspruch nicht gerecht werden?

Ich habe die unsäglichen Zustände selbst gesehen und meine Erkenntnisse nach Brüssel weitergegeben. Die Katastrophe war ja absehbar: 15.000 Menschen lebten dort eingepfercht in einem Flüchtlingsgefängnis, das für 3.000 geplant war. Mit Zuständen, wie ich sie in keinem afrikanischen Lager je gesehen habe. Moria ist kein Flüchtlingslager, sondern ein Gefängnis. Kaum ein Lager der Welt hat schlechtere Lebensbedingungen. Das ist eine Schande für Europa. Ich sprach mit auf der Flucht vergewaltigten afrikanische Frauen, die in einer Ecke lagen und auf die Geburt ihrer Kinder warteten. Ohne Hygiene oder ärztliche Versorgung. Doch passiert ist nichts. Moria muss aber vor allem ein Weckruf sein, damit die grundsätzlichen Fragen europäischer Asylpolitik endlich angegangen werden. Der Ausbau des Außengrenzschutzes und Frontex ist richtig. Es fehlt aber die zweite Säule: Investitionen in den Herkunftsländern. Die Menschen kommen ja nicht ohne Grund. Nur wenn sich ihre Perspektiven in der Heimat verbessern, werden Flüchtlinge den gefährlichen Weg nach Europa nicht mehr auf sich nehmen. Ich halte es daher geradezu für fatal, dass genau dafür die nächsten sieben Jahre die Mittel in der EU gekürzt werden.

HSS: Die Corona-Pandemie verursacht wirtschaftliche und soziale Verwerfungen in allen Teilen der Welt, dies wird auch Auswirkungen auf unsere Möglichkeiten haben, die globalen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Dem Optimismus Ihres Buches folgend: Sehen Sie auch Chancen für eine Neuorientierung, für ein "Umdenken"?

Ja. Entscheidend ist, dass wir aus der Krise jetzt die richtigen Konsequenzen ziehen und umdenken in Politik, Wirtschaft und Konsum. Die Herausforderungen sind gewaltig, aber lösbar. Ein Beispiel: Jede Woche wächst die Weltbevölkerung um die Größe Münchens. Im Jahr ist das einmal die Größe Deutschlands. Gleichzeitig ist die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, seit 1990 um 1,3 Milliarden Menschen gesunken. Durch Stärkung der Gesundheitssysteme wurde die Kindersterblichkeit mehr als halbiert. Polio und Masern sind fast ausgerottet. Gab es vor 30 Jahren noch 350.000 Polio-Fälle, sind es aktuell nur noch 61. Die Coronakrise macht jetzt zwar viele Fortschritte zunichte. Das bewegt mich sehr. Meine Überzeugung ist aber weiterhin, dass wir umsetzbare Lösungskonzepte haben. Das ist auch Schwerpunkt meines neuen Buchs "Umdenken", wo ich diese konkret aufzeige. Das stimmt mich auch optimistisch, dass wir die aktuellen Herausforderungen meistern können.

HSS: Herr Minister Müller, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Interview: Franziska Weichselbaumer, HSS