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In der Ukraine stehen Stichwahl an
Unerfahren, unverbraucht, unverschämt

Autor: Benjamin Bobbe

Der Schauspieler und Kabarettist Wolodymyr Selenski ging mit rund 30% der Wählerstimmen erfolgreich aus der ersten Runde der ukrainischen Präsidentschaftswahlen hervor. Platz zwei belegt mit deutlichem Abstand der amtierende Präsident Pedro Poroschenko, knapp vor der ehemaligen Premierministerin Julia Tymoschenko. In der Stichwahl am 24.April fällt die Entscheidung zwischen Selenski und Poroschenko.

Mit den Wahlen am vergangenen Sonntag liegt das erste, langerwartete Ergebnis der urkainischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vor. Es geht um viel: Statements der beteiligten Politiker zufolge und nach Ansicht zahlreicher Analytiker wird diese Wahl auch über das Erbe der „Revolution der Würde“ entscheiden. 

Info: Der Maidan

"EuroMaidan" oder "Revolution der Würde" werden die Demonstrationen in Kiew und anderen Städten der Ukraine bezeichnet, die im November 2013 als Reaktion auf die Einstellung der Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union begannen. Die Demonstrationen richteten sich bald immer mehr gegen Präsident und Regierung und  zogen sich bis in den Februar 2014 hin. Nach dem bis heute nicht restlos geklärten Einsatz von Scharfschützen am 18. Februar 2014, bei dem 100 Demonstranten getötet wurden, wurde der damalige Präsident Janukowitsch abgesetzt und eine Übergangsregierung ernannt. Die Situation in Kiew wurde dadurch weitgehend beruhigt; die Auseinandersetzungen  im Osten des Landes, in Lugansk und Donetzk, nahmen aber an Schärfe zu und führten letztlich zur Sezession der sog. "Volksrepubliken" Donetzk und Lugansk. Die Präsidentschaftswahlen 2014 konnte Pedro Poroschenko  im ersten Wahlgang mit 55% der Stimmen für sich entscheiden. Zweitplatzierte war  Julia Tymoschenko mit  13% der abgegeben Stimmen.

Ein junger, markanter Mann mit einfachem Anzug und einer Narbe über dem linken Auge.

Wolodymyr Selenski ist den meisten Ukrainern bekannt als volksnaher TV-Präsident "Goloborodko".

UNIAN; HSS

Der Wahlkampf begann schon im Frühsommer 2018 mit umfangreichen Plakataktionen. Aber bald wurde deutlich, dass unter den 43 registrierten Kandidaten nur Poroschenko,  Tymoschenko und Selenski reelle Chancen auf das Amt des Präsidenten haben.

Dramatische Änderungen im Reformprozess der Ukraine sind durch einen möglichen Wechsel des Präsidenten des Landes nicht zu erwarten -  die drei Spitzenreiter sowie die überwiegende Mehrheit aller weiteren Kandidaten positionieren sich im bürgerlichen, pro europäischen Lager mit gemäßigt nationaler Ausrichtung. Keiner der Kandidaten trat beispielsweise mit einer offen pro-russischen Position an - ein Erfolg des EuroMaidan und der konsequenten europäischen Annäherung des Landes, die durch die  Aggressionen der Russischen Föderation seit 2014 noch gefördert wurde. Die Unterschiede der Kandidaten sind daher gering, von Wahlkampfversprechen abgesehen.

Sein und Schein in der Ukrainischen Politik

Insbesondere die junge, urbane Zivilgesellschaft der post-Maidan Ukraine ist auf der Suche nach neuen politischen Führungsfiguren und charismatischen Vertretern einer gewandelten, demokratischen und europäischen Ukraine. Daher war es nicht verwunderlich, dass gerade bei den Präsidentschaftswahlen neben den "üblichen Verdächtigen" -  also bekannten Vertretern der politischen Klasse des Landes - vor allem zwei zunächst informelle Kandidaten die Diskussion prägten, die im Frühjahr 2018 beide mit jeweils 5-10% Stimmenpotential gehandelt wurden.

Ein schmaler Mann mit entschlossenem Blick hält ein Mikro mit beiden Händen fest.

Der Sänger und ehemalige Abgeordnete, Svjatoslaw Vachartschuk, schrieb Texte, die während des Maidan Kultstatus bekamen.

unian; HSS

Zum einen war das der Sänger der Gruppe "Okean Elzy" Svjatoslaw Vachartschuk, dessen sozial und politisch engagierte Texte während des Maidan Kultstatus bekamen. Vachartschuk war 2007 Abgeordneter des Parlaments der Ukraine - und ist bis heute einer der Wenigen, die ihr Mandat freiwillig aufgegeben haben, nach eigenen Angaben aufgrund der politischen Kämpfe im Parlament, die konstruktive Arbeit zum Wohle des Landes unmöglich machten.Der zweite politische Newcomer ist der Schauspieler, Kabarettist und Medienunternehmer  Wolodymyr Selenski  der vor allem durch die populäre TV-Serie "Diener des Volkes"  um den fiktiven Lehrer Wassilij Goloborodko im Land bekannt wurde, der auf Initiative seiner Schüler Präsident wird und Politik mit Herz und gesundem Menschenverstand betreiben will.

Während sich Vachartschuk 2017 in den USA mit Politikwissenschaft und modernem Management beschäftigte, scheint bei Wolodymyr Selenski in  dieser Zeit der Plan gereift zu sein, den enormen Erfolg der Fernsehserie  "Diener des Volkes" in politisches Kapital umzumünzen. Unterstützt durch seine zahlreichen Fernsehauftritte in dem Kabarett- und Comedyprogramm "Quartal am Abend / 95. Quartal", nutzte er seine Medienpräsenz, um gleich zwei Gruppen von Wählern für sich zu gewinnen: Motivierte Jung- und Protestwähler auf der Suche nach politischen Alternativen erreichte er durch scharfzüngiges politisches Kabarett, weniger politikaffinen Fernsehkonsumenten blieb er am Wahltag als volksnaher TV-Präsident Goloborodko im Bewusstsein.

 

Die Tür eines Hauses. Dahinter liegt ein Wahllokal.

Es kommt zur Stichwahl. Der unerfahrene Wolodymyr Selenski tritt gegen den Politikveteranen Pedro Poroschenko an und er liegt vorne. Selenskis Vorteil: er wird nicht als Politiker wahrgenommen. (Bild: Ein Wahllokal)

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Spätestens im Sommer 2018, als Vachartschuk bei einem Großkonzert in Kiew vor 80.000 Zuschauern die von seinen Anhängern langerwartete Kandidatur zum Präsidenten nicht bekanntgab, zeichnete sich ab, dass Selenski der Kandidat all derer sein würde, die sich in  etablierten politischen Landschaft des Landes nicht widerfinden. 

So viel Neuerung erklärt, warum der bisherige Präsident Poroschenko in den letzten Wochen seinen Rückstand gegenüber Tymoschenko aufholen konnte. In einer Wahl "Neues gegen Bekanntes" sind diese Positionen durch Selenski und Poroschenko klar besetzt. Tymoschenko, die sich mit neuer Frisur und neuem Wahlkampfteam optisch und in ihrem Auftreten zwar neu erfunden hat, aber dennoch klar dem politischen Establishment der Ukraine zuzuordnen ist, blieb beim Rennen um das höchste Staatsamt nur der undankbare dritte Platz.

Internationale Wahlbeobachtung

Die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine werden intensiv durch das ODIHR, der Menschenrechtsinstitution der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) begleitet. 100 Kurzzeit- und 750 Langzeitexperten aus den Teilnehmerstaaten der OSZE bewerten die technische und organisatorische Durchführung der Wahlen -  mit einer Ausnahme. Durch ein Anfang Februar verabschiedetes Gesetz der Ukraine ist es russischen Staatsbürgern untersagt, in der Ukraine als Wahlbeobachter tätig zu werden, auch im Rahmen von OSZE / ODIHR. ODIHR  hatte sich bereits "tief enttäuscht über diesen beispiellosen Schritt" gezeigt und  betonte, dass die Beobachter nicht ihre Länder sondern die ganze OSZE vertreten.  Der russische Vertreter bei der OSCE fordert eine Stellungnahme zu dieser einseitigen Einschränkung der  Grundlagen der Organisation.

Der Schaden, den die Ukraine der OSCE als Instrument der internationalen Zusammenarbeit zufügt, dürfte weit schwerer wiegen, als es der befürchtete negative Einfluss von 20 bis 30 russischen Wahlbeobachtern. 

Fake News

Der Wahlkampf war gekennzeichnet durch eine hohe Zahl von fake-news-Falschmeldungen, vor allem in sozialen Medien, die Kandidaten diskreditieren und die Wähler verunsichern sollten. Hierbei wurden in bekannter Manier Fakten und Fiktion vermischt,  so dass  auch für interessierte Beobachter die Grenzen verschwammen. Ein Beispiel ist die weitverbreitete fake news, der ukrainische Fernsehsender 1+1 hätte am Sylvesterabend anstatt der Neujahrsansprache des Präsidenten eine Ansprache von Wolodymyr Selenski ausgestrahlt, bei der er seine Kandidatur bekanntgegeben habe. Glaubhaft wurde diese Meldung auch dadurch,  dass Selenski seit Jahren in  seinen Programmen mit dem Sender 1+1 zusammenarbeitet, der dem Oligarchen Igor Kolomoisky gehört -  der wiederum in Opposition zu Präsident Poroschenko steht. Richtig ist aber, dass zeitlich versetzt beide am Sylvesterabend zu Wort kamen -  Selenski  um 23.58 Uhr am 31.12.2018 in einer Ausblende aus seinem laufenden Programm, Poroshenko um 00:02 Uhr am 01.01.2019 mit seiner traditionellen Neujahrsansprache.  Mit rund 20.000 likes, reposts und Kommentaren war dies eine sehr virale Meldung. Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Meldungen deutlichen Einfluss auf den Verlauf der Wahlen hatten, ist bei 35 Millionen Wahlberechtigten aber gering - umso mehr, als nahezu alle Kandidaten durch fake-news angegriffen wurden. 

Ausblick auf die Stichwahl am 24. April

Überraschend beim gestrigen Urnengang ist vor allem der deutliche Vorsprung, mit dem Wolodymyr Selenski den ersten Wahlgang für sich entschieden hat. Mit fast doppelt so vielen Stimmen wie der amtierende Präsident kann er der entscheiden Wahl am 24. relativ gelassen entgegensehen -  obwohl auch eine dramatischer Stimmungswechsel  der ukrainischen Wähler nicht völlig ausgeschlossen ist.  Selbst Svjatoslaw Vachartschuk hatte am Vorabend der Wahl in offensichtlicher Anspielung auf das Komiker- Image von Selenski an die Wähler appelliert, nicht „aus Spaß“, sondern verantwortungsvoll zu wählen. Es ist daher möglich, dass gerade Protestwähler, die ihrem Unmut am politischen System in der ersten Runde Luft gemacht haben, in der 2. Runde an der Wahlurne gemäßigter agieren werden.

Mitteleuropa, Osteuropa, Russland
N.N.
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Ukraine
Benjamin Bobbe
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