Drei Fakten charakterisieren das Wahlergebnis der jüngsten Parlamentswahlen in Ungarn.
Viele Wahlbeobachter und Journalisten rechneten damit, dass die hohe Wahlbeteiligung der Opposition zu gute käme. Das hat sich nicht bestätigt. Im Gegenteil: Fidesz hat die Wahlen so deutlich gewonnen, dass man sogar über eine knappe verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit verfügen wird. Die Tragweite der Flucht- und Migrationsdebatte für den Wahlkampf sowie die mehrheitliche Einstellung der ungarischen Bevölkerung waren von den meisten Experten falsch eingeschätzt worden. Der etwas unerwartete Sieg des unabhängigen Kandidaten bei einer Zwischenwahl in Hódmezővásárhely, kurz vor den Parlamentswahlen, scheint Meinungsbilder über die landesweite Wählergunst getäuscht zu haben. Die Überraschung war groß, denn diese Einschätzung war von allen Medien und dem gesamten Parteispektrum mitgetragen worden. Die besonders in den sozialen Medien wahrgenommene Wechselstimmung hat sich nicht bestätigt.
Neu ins Parlament kommt ein Vertreter der 13 Minderheiten in Ungarn. Damit ist seit der Wende zum ersten Mal ein Ungarndeutscher als Minderheitenvertreter ins ungarische Parlament gewählt worden: Imre Ritter aus Budaörs, ein gelernter Wirtschaftsprüfer und Kommunalpolitiker. Ein Kandidat einer Minderheit muss 25% der für ein reguläres Mandat benötigten Stimmen aufbringen, was nur dem Kandidaten der deutschen Minderheit gelang. Ritter steht Fidesz nahe und erklärte bereits, dass er sich für die Interessen aller Minderheiten im ungarischen Parlament einsetzen wolle. Sein Mandat erlangt durch die knappen Stimmenverhältnisse bei verfassungsändernden Fragen besonderes Gewicht, vielleicht sogar „als Zünglein an der Waage“.
Historisch ist die Wahl nicht nur wegen der Wahlbeteiligung. Zum ersten Mal seit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat eine politische Kraft dreimal hintereinander die Parlamentswahlen gewonnen. Für Viktor Orbán ist es die insgesamt vierte Amtszeit. Damit setzen Fidesz und KDNP was Wahlergebnisse anbelangt in der Familie der Europäischen Volkspartei (EVP) neue Maßstäbe: seit der EU-Osterweiterung 2004 waren keine EVP-Parteien in einem der damals neu beigetretenen Ländern so erfolgreich wie die nunmehr wiedergewählte Allianz aus Fidesz und KDNP.
Innerhalb der EVP flammten allerdings nach dem unerwartet deutlichen Wahlsieg der Fidesz EVP-interne Konflikte wieder auf. Während der EVP-Vorsitzende Joseph Daul gratulierte, verband EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU) die Glückwünsche mit sachter Kritik, nämlich dem Wunsch "gemeinsam an europäischen Lösungen zu arbeiten". Zugleich wird der Konflikt in der größten Fraktion im Europaparlament stärker, so kritisierten EVP-Politiker aus den Benelux-Ländern und Schweden ihre eigene Fraktions- und Parteiführung in puncto Ungarn besonders hart, wie zum Beispiel der schwedische Europaabgeordnete Gunnar Hökmark oder der Luxemburger Frank Engel.
Viele Ungarn selbst würden vielleicht antworten, ihre Landsleute passten nicht in die gängigen Schemata des politischen Establishments in der EU. Man sei stolz auf Ungarn, stolz auf die Freiheit, die man jahrhundertelang immer wieder verteidigen oder wieder erringen musste, stolz auf die Geschichte und Landeskultur. Vielerorts wehrt man sich gegen den vermeintlichen Einfluss „Fremder Mächte“ oder gar eine „Bevormundung“ von außen. Blickt man unter diesen Voraussetzungen auf die Wahlergebnisse, dann erscheint nur folgerichtig, dass die Ungarn den Wahlkampf von Orbán und seine Politik honorierten – wenngleich ein Stadt-Land-Gefälle offenkundig ist.
Die ungarische Gesellschaft ist stark polarisiert. Anzeichen einer Polarisierung konnten bereits kurz nach der Wendezeit 1989 wahrgenommen werden. Die Medienlandschaft in Ungarn ist heute wenig differenziert und es scheint, dass die politische Einstellung eines Ungarn zu großen Teilen von seinem Medienkonsum abgeleitet werden könne. Die während der Wahlen anwesenden OSZE-Wahlbeobachter schreiben in ihrem Report "Fundamental rights and freedoms were respected overall, but exercised in an adverse climate", was frei übersetzt heißt, dass die Grundrechte und Freiheiten zwar respektiert worden seien, aber ein „ungünstiges“ oder „feindliches“ Klima geherrscht habe. Der Vorwurf der Vereinnahmung der öffentlich-rechtlichen Medien lässt sich nicht von der Hand weisen. Es jedoch bleibt unklar, in welchem Maße das mediale Ungleichgewicht Fidesz geholfen hat, vor allem auf dem Land neue Wähler zu gewinnen, wo die Menschen sich noch hauptsächlich über klassische Medien informieren. Fest steht, dass 2018 viele Menschen ihre Stimme abgegeben haben, die seit Jahren nicht mehr zur Wahl gegangen sind. Und das in beträchtlicher Zahl, was weder Fidesz selbst noch die Umfrageinstitute für möglich gehalten hatten.
Fidesz spielte genau zwei Themen im Wahlkampf: „Migration“ und „fremde Mächte“ (Stichwort Soros). Immer wieder wurden die Streitpunkte mit der EU bei der „Pflichtquote“ für Geflüchtete thematisiert oder die Anti-Soros Kampagne, außerdem zusätzlich Themen wie Familie, Sicherheit, die Bewahrung abendländischer Werte oder die europäische Kultur. Es mündete alles in die beiden Slogans „Wir verteidigen Ungarn“ oder „Ungarn darf kein Einwanderungsland werden“. Das Thema Migration wurde derart massiv von Fidesz besetzt, dass auch der rechtsextremistische Jobbik mit der Thematik nicht groß punkten konnte. Ohnehin ist selbst die politische Opposition beim Thema Flucht und Migration sehr zurückhaltend.
Der als EU-Kritiker geltende Orbán bezog sich immer wieder auf die „pflichtgemäße Sicherung der EU-Außengrenze“ gemäß des Schengen Vertrages. Das wusste er geschickt für seinen Wahlkampf zu nutzen: Sein Land solle für seinen Einsatz von der EU gelobt werden, anstatt Drohungen zu erhalten, dass etwa Kohäsionsmittel gekürzt würden. Man kann daher sagen, dass die Wahlen keine Wahlen „pro Orbán“ waren, sondern eher „contra Migration“ und „äußere Mächte“.
Die Wahlergebnisse zeigen, dass der gerade in deutschen Medien vorhergesagte Zugewinn der Opposition nicht zustande kam, im Gegenteil: das Vertrauen der Bevölkerung in die Orbán-kritischen Kräfte schwand allgemein. Auch die zweitstärkste Kraft im Parlament, Jobbik, musste Verluste hinnehmen, weshalb noch in der Wahlnacht Parteichef Gábor Vona zurücktrat.
Die „Aufbruchsstimmung“ bei den Sozialisten, die noch nicht einmal mit einem eigenen Spitzenkandidaten angetreten waren, sondern sich mit Gergely Karácsony von der Partei PM (Dialog für Ungarn) als Spitzenkandidat für eine Art „Kandidatenleasing“ entschlossen hatten, hat sich in der Wählergunst nicht niedergeschlagen. Die beiden Parteien haben fast ausschließlich in der traditionell linken Hochburg Budapest Einzelwahlkreise gewonnen. Die komplette Führung der Sozialisten bot daher ihren Rücktritt an. Karácsony aber ist fest entschlossen, weiter für die komplette Erneuerung der linken Seite kämpfen zu wollen. Altministerpräsident Ferenc Gyurcsány kann trotz des eigentlich recht mageren Ergebnisses seiner Partei DK (Demokratische Koalition) – 5,64 % - nicht unzufrieden sein, denn statt vier hat die Partei zukünftig neun Mandate im neuen Parlament und kann eine eigene Fraktion bilden.
Viktor Orbán sprach in seiner ersten Rede in der Wahlnacht von einem historischen Wahlsieg, rief aber zur Bescheidenheit auf. Er bedankte sich bei seinen Unterstützern, so auch bei den Visegrád-Staaten. Besonders dankte er zwei europäischen Regierungen für deren Unterstützung auch in schwierigen Zeiten: der polnischen Regierung und der bayerischen Staatsregierung.