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Warum sich EU-Staaten über die Ungarnwahl wundern
Ungarn ist anders

Die Parlamentswahlen in Ungarn haben im Rest der EU und der Welt für eine Überraschung gesorgt. Viktor Orbán verbuchte mit knapp 50 Prozent Stimmanteil einen historischen Erfolg für seinen Fidesz Parteienbund. Für ihn beginnt jetzt die vierte Amtszeit als Präsident. Warum hat keiner mit diesem Erfolg gerechnet?

Drei Fakten charakterisieren das Wahlergebnis der jüngsten Parlamentswahlen in Ungarn.

  1. Viktor Orbán und seine Wahlallianz aus Fidesz (Bürgerbund) und KDNP (Christdemokratische Partei) sind klarer Wahlsieger. Das erst am 14. April 2018 veröffentlichte amtliche Wahlergebnis bestätigt eine hauchdünne 2/3-Mehrheit für Fidesz: mit 49,60 Prozent Stimmen erreichte Orbán 133 von 199 Mandaten im Parlament (66,83% der Sitze). 
  2. Die Wahlbeteiligung stieg auf 69,41% und erreichte damit fast das historische Hoch aus dem Jahr 2002 (70,53%). Nachdem es in Ungarn keine Briefwahl für im Inland lebende Wahlberechtigte gibt, standen sogenannte „umgemeldete Wahlberechtigte“ (immerhin insgesamt 200.041 Wähler) teils stundenlang vor den extra dafür eingerichteten Wahllokalen. 
  3. Die Opposition hat sich noch weiter zersplittert, die größte Oppositionspartei, die rechtsextremistische „Jobbik“, erlitt sogar Verluste.
Ungarns Parlament von innen. Gerade hat sich das voll besetzte Haus geschlossen erhoben, wegen einer Schweigeminute oder einer Vereidigung vermutlich...

49,60 % der Wähler konnte Viktor Orbán von seiner Politik überzeugen. Das reichte für eine knappe 2/3 Mehrheit. Zum ersten mal wird übrigens mit Imre Ritter ein Ungarndeutscher als Vertreter der 13 Minderheiten Ungarns im Parlament sitzen.

bici; CC0; Pixabay

Überraschung für Wahlbeobachter und Journalisten

Viele Wahlbeobachter und Journalisten rechneten damit, dass die hohe Wahlbeteiligung der Opposition zu gute käme. Das hat sich nicht bestätigt. Im Gegenteil: Fidesz hat die Wahlen so deutlich gewonnen, dass man sogar über eine knappe verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit verfügen wird. Die Tragweite der Flucht- und Migrationsdebatte für den Wahlkampf sowie die mehrheitliche Einstellung der ungarischen Bevölkerung waren von den meisten Experten falsch eingeschätzt worden. Der etwas unerwartete Sieg des unabhängigen Kandidaten bei einer Zwischenwahl in Hódmezővásárhely, kurz vor den Parlamentswahlen, scheint Meinungsbilder über die landesweite Wählergunst getäuscht zu haben. Die Überraschung war groß, denn diese Einschätzung war von allen Medien und dem gesamten Parteispektrum mitgetragen worden. Die besonders in den sozialen Medien wahrgenommene Wechselstimmung hat sich nicht bestätigt.

Neu ins Parlament kommt ein Vertreter der 13 Minderheiten in Ungarn. Damit ist seit der Wende zum ersten Mal ein Ungarndeutscher als Minderheitenvertreter ins ungarische Parlament gewählt worden: Imre Ritter aus Budaörs, ein gelernter Wirtschaftsprüfer und Kommunalpolitiker. Ein Kandidat einer Minderheit muss 25% der für ein reguläres Mandat benötigten Stimmen aufbringen, was nur dem Kandidaten der deutschen Minderheit gelang. Ritter steht Fidesz nahe und erklärte bereits, dass er sich für die Interessen aller Minderheiten im ungarischen Parlament einsetzen wolle. Sein Mandat erlangt durch die knappen Stimmenverhältnisse bei verfassungsändernden Fragen besonderes Gewicht, vielleicht sogar „als Zünglein an der Waage“.

Budapest bei Nacht. Eine steinerne Brücke spannt sich über die Elbe. Im Hintergrund eine Kathedrale und repräsentative Bauten.

Im Wahlverhalten der Ungarn gibt es ein starkes Stadt/Land-Gefälle. Vikor Orbáns Fidesz-Bündnis war besonders in ländlichen Gebieten nicht zu schlagen. Nur in der Hauptstadt Budapest konnten die Kandidaten der Opposition nennenswerte Stimmenanteile gewinnen.

12019; CC0; Pixabay

Erfolgreich wie nie

Historisch ist die Wahl nicht nur wegen der Wahlbeteiligung. Zum ersten Mal seit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat eine politische Kraft dreimal hintereinander die Parlamentswahlen gewonnen. Für Viktor Orbán ist es die insgesamt vierte Amtszeit. Damit setzen Fidesz und KDNP was Wahlergebnisse anbelangt in der Familie der Europäischen Volkspartei (EVP) neue Maßstäbe: seit der EU-Osterweiterung 2004 waren keine EVP-Parteien in einem der damals neu beigetretenen Ländern so erfolgreich wie die nunmehr wiedergewählte Allianz aus Fidesz und KDNP.

Innerhalb der EVP flammten allerdings nach dem unerwartet deutlichen Wahlsieg der Fidesz EVP-interne Konflikte wieder auf. Während der EVP-Vorsitzende Joseph Daul gratulierte, verband EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU) die Glückwünsche mit sachter Kritik, nämlich dem Wunsch "gemeinsam an europäischen Lösungen zu arbeiten". Zugleich wird der Konflikt in der größten Fraktion im Europaparlament stärker, so kritisierten EVP-Politiker aus den Benelux-Ländern und Schweden ihre eigene Fraktions- und Parteiführung in puncto Ungarn besonders hart, wie zum Beispiel der schwedische Europaabgeordnete Gunnar Hökmark oder der Luxemburger Frank Engel.

Schlange wartender Menschen auf dem Bürgersteig unter an Straßenlaternen aufgehängten Wahlplakaten. Die Schlange wird immer schmaler und verschwindet in der Ferne.

Mit 69,41% war die Wahlbeteiligung fast so hoch wie 2002 (70,53%). Wie immer man das offenbare Ungleichgewicht in der Medienpräsenz im Vorfeld der Wahl beurteilen mag, fest steht, dass 2018 viele Menschen ihre Stimme abgegeben haben, die seit Jahren nicht mehr gewählt hatten. 2014 hatte die Wahlbeteiligung nur bei 62% gelegen.

HSS

Der Stolz der Ungarn

Viele Ungarn selbst würden vielleicht antworten, ihre Landsleute passten nicht in die gängigen Schemata des politischen Establishments in der EU. Man sei stolz auf Ungarn, stolz auf die Freiheit, die man jahrhundertelang immer wieder verteidigen oder wieder erringen musste, stolz auf die Geschichte und Landeskultur. Vielerorts wehrt man sich gegen den vermeintlichen Einfluss „Fremder Mächte“ oder gar eine „Bevormundung“ von außen. Blickt man unter diesen Voraussetzungen auf die Wahlergebnisse, dann erscheint nur folgerichtig, dass die Ungarn den Wahlkampf von Orbán und seine Politik honorierten – wenngleich ein Stadt-Land-Gefälle offenkundig ist.  

Die ungarische Gesellschaft ist stark polarisiert. Anzeichen einer Polarisierung konnten bereits kurz nach der Wendezeit 1989 wahrgenommen werden. Die Medienlandschaft in Ungarn ist heute wenig differenziert und es scheint, dass die politische Einstellung eines Ungarn zu großen Teilen von seinem Medienkonsum abgeleitet werden könne. Die während der Wahlen anwesenden OSZE-Wahlbeobachter schreiben in ihrem Report "Fundamental rights and freedoms were respected overall, but exercised in an adverse climate", was frei übersetzt heißt, dass die Grundrechte und Freiheiten zwar respektiert worden seien, aber ein „ungünstiges“ oder „feindliches“ Klima geherrscht habe. Der Vorwurf der Vereinnahmung der öffentlich-rechtlichen Medien lässt sich nicht von der Hand weisen. Es jedoch bleibt unklar, in welchem Maße das mediale Ungleichgewicht Fidesz geholfen hat, vor allem auf dem Land neue Wähler zu gewinnen, wo die Menschen sich noch hauptsächlich über klassische Medien informieren.  Fest steht, dass 2018 viele Menschen ihre Stimme abgegeben haben, die seit Jahren nicht mehr zur Wahl gegangen sind. Und das in beträchtlicher Zahl, was weder Fidesz selbst noch die Umfrageinstitute für möglich gehalten hatten.

Der Kaleti Bahnhof: Ein historischer Steinbau, wohl aus dem 19. oder frühen 20 Jahrhundert.

Kaleti-Bahnhof in Budapest: Hier kam es 2015 zu den historischen Tumulten mit Flüchtlingen, die weiter in Richtung Zentraleuropa reisen wollten. Das hat Angela Merkel dazu bewogen, die deutschen Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen. Ein Akt der Menschlichkeit. Der politische Fallout jedoch beschäftigt Europa noch heute.

hpgruesen; CC0; Pixabay

Wahlkampf

Fidesz spielte genau zwei Themen im Wahlkampf: „Migration“ und „fremde Mächte“ (Stichwort Soros). Immer wieder wurden die Streitpunkte mit der EU bei der „Pflichtquote“ für Geflüchtete thematisiert oder die Anti-Soros Kampagne, außerdem zusätzlich Themen wie Familie, Sicherheit, die Bewahrung abendländischer Werte oder die europäische Kultur. Es mündete alles in die beiden Slogans „Wir verteidigen Ungarn“ oder „Ungarn darf kein Einwanderungsland werden“. Das Thema Migration wurde derart massiv von Fidesz besetzt, dass auch der rechtsextremistische Jobbik mit der Thematik nicht groß punkten konnte. Ohnehin ist selbst die politische Opposition beim Thema Flucht und Migration sehr zurückhaltend.

Der als EU-Kritiker geltende Orbán bezog sich immer wieder auf die „pflichtgemäße Sicherung der EU-Außengrenze“ gemäß des Schengen Vertrages. Das wusste er geschickt für seinen Wahlkampf zu nutzen: Sein Land solle für seinen Einsatz von der EU gelobt werden, anstatt Drohungen zu erhalten, dass etwa Kohäsionsmittel gekürzt würden. Man kann daher sagen, dass die Wahlen keine Wahlen „pro Orbán“ waren, sondern eher „contra Migration“ und „äußere Mächte“.

Fazit

Die Wahlergebnisse zeigen, dass der gerade in deutschen Medien vorhergesagte Zugewinn der Opposition nicht zustande kam, im Gegenteil: das Vertrauen der Bevölkerung in die Orbán-kritischen Kräfte schwand allgemein. Auch die zweitstärkste Kraft im Parlament, Jobbik, musste Verluste hinnehmen, weshalb noch in der Wahlnacht Parteichef Gábor Vona zurücktrat.  

Die „Aufbruchsstimmung“ bei den Sozialisten, die noch nicht einmal mit einem eigenen Spitzenkandidaten angetreten waren, sondern sich mit Gergely Karácsony von der Partei PM (Dialog für Ungarn) als Spitzenkandidat für eine Art „Kandidatenleasing“ entschlossen hatten, hat sich in der Wählergunst nicht niedergeschlagen. Die beiden Parteien haben fast ausschließlich in der traditionell linken Hochburg Budapest Einzelwahlkreise gewonnen. Die komplette Führung der Sozialisten bot daher ihren Rücktritt an. Karácsony aber ist fest entschlossen, weiter für die komplette Erneuerung der linken Seite kämpfen zu wollen. Altministerpräsident Ferenc Gyurcsány kann trotz des eigentlich recht mageren Ergebnisses seiner Partei DK (Demokratische Koalition) – 5,64 % - nicht unzufrieden sein, denn statt vier hat die Partei zukünftig neun Mandate im neuen Parlament und kann eine eigene Fraktion bilden.  

Viktor Orbán sprach in seiner ersten Rede in der Wahlnacht von einem historischen Wahlsieg, rief aber zur Bescheidenheit auf. Er bedankte sich bei seinen Unterstützern, so auch bei den Visegrád-Staaten. Besonders dankte er zwei europäischen Regierungen für deren Unterstützung auch in schwierigen Zeiten: der polnischen Regierung und der bayerischen Staatsregierung.

Ungarn
Dr. Markus Ehm
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