„Die Reform des Wahlrechts Anfang 2023 war eine der wichtigsten Entscheidungen der Ampel-Regierung“, begrüßte Moderator Dr. Michael Hahn, Referatsleiter im Institut für Politische Bildung der Hanns-Seidel-Stiftung, die rund 35 Gäste. „Das Wahlrecht kann verändert werden. Dafür gelten laut Grundgesetz nur die Grundsätze einer allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl.“
Intensiv wurden von den Experten der Veranstaltung „Systembruch – die Wahlrechtsreform" die Änderungen diskutiert und nach Alternativen und Lösungen gesucht.
Andreas von Delhaes-Guenther
Welche Auswirkungen das geänderte Wahlrecht hat, darüber berichteten Dr. Kyrill-Alexander Schwarz, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Würzburg, und Dr. Michel Zöller, emeritierter Professor der politischen Soziologie an der Universität Bayreuth. Die CSU hatte gegen das neue Wahlrecht Klage vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben, wo sie durch Schwarz vertreten wird. Dieser stellte zunächst die Grundzüge der Wahlrechtsreform dar, „die man kaum verstehen kann“. Dies sei schon der erste Kritikpunkt, schließlich müsse der demokratische Souverän, der das Wahlrecht ausübe, es auch verstehen können. Auch werde das Ziel verfehlt, den Bundestag zu verkleinern, weil die Ampel „relativ klandestin“ dafür gesorgt habe, dass die gesetzliche Anzahl der Mitglieder des Bundestages erhöht worden sei – auf 630 statt bisher 598. Grundsätzlich sei der Gesetzgeber laut Grundgesetz zwar weitgehend frei in der Ausgestaltung des Wahlrechts, dennoch sei es bisher üblich gewesen, diese Entscheidung parteiübergreifend zu treffen. Nun sei jedoch schon die Gesetzgebung sehr dubios verlaufen, als die Ampel „im Hauruckverfahren“ das neue Wahlrecht durchpeitschte und in letzter Minute noch entscheidende Änderungen vornahm.
Denn die Grundmandatsklausel, die besagt, dass eine Partei mit mindestens drei Direktmandaten trotz Verfehlens der Fünf-Prozent-Klausel auch Anspruch auf Listenmandate hat, sei kurz vor Verabschiedung für alle überraschend gestrichen worden. „Man hat eine Abkehr vorgenommen vom bewährten Wahlsystem, einer seit den 50er Jahren bestehenden Kombination aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht. Man stärkt die Verhältniswahl und vernachlässigt vollständig regionale und föderale Komponenten“, sagte Prof. Schwarz. Das Wahlrecht habe jedoch die Aufgabe, die Repräsentation der Wähler widerzuspiegeln. Zwar gebe es nun keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr. „Jetzt aber ist es denkbar, dass eine Partei nahezu alle Direktmandate in einer Region gewinnt, aber dennoch nicht im Bundestag vertreten ist, wenn sie die fünf Prozent bundesweit nicht erreicht.“ Eine nicht unerhebliche Gefahr für die CSU, deshalb sei es ein „eindeutig antibayerisches Wahlrecht“, wie auch die Anhörungen schon deutlich gemacht hätten.Kandidaten mit dem schlechtesten Erststimmenergebnis der Wahlkreise könnten aus dem Bundestag fliegen, ihre Wählerstimmen verschwinden. Der Wählerwille werde in solchen Fällen ignoriert. Dies stelle grundsätzlich die Mehrheitsentscheidung infrage und es sei für die Wähler nicht mehr nachvollziehbar, ob die eigene Stimme berücksichtigt werde. Der Grundsatz der unmittelbaren Wahl werde durch externe Faktoren, also die Erststimmenergebnisse anderer Wahlkreise, abgeschafft. Auch der Gleichheitsgrundsatz werde verletzt. Obendrein könnten unabhängige Kandidaten nun im Gegensatz zu Parteikandidaten immer einziehen, wenn sie im Wahlkreis vorne lägen. Für eine Wahlrechtsänderung seien „zwingende Gründe“ erforderlich, wie die Arbeitsfähigkeit des Bundestages. Angesicht der aktuellen Gesetzesflut könne er eine verminderte Arbeitsfähigkeit aber nicht erkennen, betonte Schwarz.
Professor Michael Zöller kritisierte die Aufblähung des Bundestages zwar als „ständige Ausweitung der Staatstätigkeit“. Durch das veränderte Parteiengefüge sei es dank eines „Rattenschwanzes von Überhang- und Ausgleichsmandaten“ immer schwieriger geworden, dieses Wachstum zu verhindern. Zudem habe dies zu „immer kläglicheren Direktwahlergebnissen“ geführt. Aber man müsse trotzdem sich die Frage stellen, „welchen Typ Abgeordneten“ man sich wünsche, den direkt gewählten Ansprechpartner oder den treuen Listen-Parteisoldaten, oft jung und ohne abgeschlossene Ausbildung, der damit obendrein auf einen Verbleib im Parlament angewiesen sei. Insbesondere Kommunalpolitiker hätten ihn immer wieder auf die Bedeutung eines direkten Ansprechpartners für die Region hingewiesen. Zöller machte auf den „staatspolitischen Charakter des Wahlrechtes“ aufmerksam, weil der Gesetzgeber „mit einfacher Mehrheit Unheil anrichten“ könne. Die Ampel habe nun ihre Änderungen „auf handwerklich unsaubere Weise“ durchgesetzt.
Er sprach sich zur künftigen Wahlrechtsänderung für einen Verfassungskonvent aus, ähnlich der Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten wählt. Der Bundestag sei dafür ungeeignet, weil er nicht staatspolitisch denke, sondern „eigene Pfründe sichern“ wolle. Änderungen sollten dann nur mit Zweidrittelmehrheit möglich sein. Zöller brachte eine geänderte Grundmandatsklausel ins Gespräch, etwa mit sechs Direktmandaten. „Das würde regionale Besonderheiten erlauben.“ Er schlug vor, Direktmandate nur noch mit absoluter Mehrheit zu vergeben, gegebenenfalls mit einer Stichwahl der beiden Bestplatzierten. So könnte man auch ein Grabenwahlrecht à la Orban verhindern, das Erst- und Zweitstimme strikt trenne und so für unverhältnismäßig große Mehrheiten sorge.
In der anschließenden Debatte mit den Gästen wurden weitere Vorschläge debattiert, wie die Absenkung der Fünf-Prozent-Klausel auf drei Prozent. Weniger Wahlkreise würden diese zu groß werden lassen, eine Fünf-Prozent-Klausel nur auf Landesebene (da es ja Landeslisten gebe) könnte zu einer Parteienzersplitterung führen. Auch wurden weitere Fehler des Ampelwahlrechts aufgezeigt: Würde die CSU nur unabhängige Kandidaten aufstellen, wäre die Vertretung im Bundestag zwar gesichert, dürfte aber nicht als CSU-Fraktion firmieren. Ein nachträglicher Eintritt der Abgeordneten in die CSU könnte ein Wahlanfechtungsgrund sein. Eine theoretisch mögliche Listenverbindung von CDU und CSU sei ein „massiver Eingriff in die Parteienfreiheit“.