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Parlamentswahlen in Frankreich
Völlige Blockade der Regierung oder Rückkehr des Parlamentarismus?

Autor: Dr. Philipp Siegert

Keine absolute Mehrheit mehr für Emmanuel Macron. Nach dem Absturz der Regierungskoalition von 350 auf 245 Sitze muss Frankreichs Präsident nun für alle Reformvorhaben Verbündete suchen, Kompromisse schmieden, zusammenarbeiten. Fluch oder Segen für Frankreich?

Bei den Parlamentswahlen hat die Macron-nahe Koalition die notwendige Mehrheit um 44 Sitze verfehlt. Großen Zuwachs verzeichnet das Linksbündnis „NUPES“, das die Zahl seiner Abgeordneten verdreifachen konnte. Der Überraschungssieger des Wahlabends steht aber rechts: Marine Le Pens Rassemblement national steigert sich von bisher 8 auf jetzt 89 Sitze. Welche Aussichten bestehen nun für die Arbeit des Parlaments – und der Regierung?

Der Triumphbogen in Paris von oben. Sechs große Straßen führen sternförmig von ihm weg.

Mindestens acht Fraktionen werden das neue französische Parlament bilden. Jede Fraktion hat Privilegien wie Rederecht, Mitarbeit in den Ausschüssen oder Aufwandsentschädigung. Die Zeiten einamer Entscheidungen sind für Präsident Macron Vergangenheit.

GlobalIP; ©HSS; IStock

En Marche! stürzt ab – Le Pen gewinnt stark dazu

Kurz nach seinem Amtsantritt im Jahr 2017 hatte Präsident Emmanuel Macron eine haushohe eigene Mehrheit im Parlament bekommen: 308 der insgesamt 577 Abgeordneten gehörten En Marche! an, und mit dem Partner MoDem kam die Regierungskoalition auf eine sehr bequeme Mehrheit von 350 Sitzen. Dieses Jahr ist es anders: Trotz einer Koalition mit MoDem und mit Horizons (der neuen mitte-rechts-Partei von Ex-Premierminister Édouard Philippe) verpasst die Macron-nahe Koalition die notwendige Mehrheit von 289 Sitzen klar. Ein Sieg schien zwar angesichts der Ergebnisse der ersten Wahlrunde nicht wahrscheinlich, aber doch möglich: Keine Partei hatte so viele Kandidaten bis in die Stichwahl gebracht wie „Ensemble!“. Von diesen gut 400 haben es letztlich 245 geschafft. Das ist ein Verlust von mehr als 100 Sitzen im Vergleich zu vor fünf Jahren – trotz Ausweitung der Koalition.

Die Gewinner des Wahlabends sind die Kräfte, die schon bei den Präsidentschaftswahlen im April hervorstachen: Die kapitalismuskritische bis -feindliche Linke einerseits (74 Sitze), die globalisierungskritische bis (sehr) nationalkonservative Rechte andererseits (89 Sitze). Gar nicht erst ins Parlament gekommen ist hingegen die rechte Formation des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Éric Zemmour, Reconquête! (Wiedereroberung). Deren Kandidaten waren schon in der ersten Runde alle ausgeschieden, auch Zemmour selbst. Während die deutliche Steigerung der Abgeordnetenzahl der linken Parteien erwartet wurde, ist der sprunghafte Anstieg der rechts-außen-Partei Rassemblement national eine große Überraschung.

Mindestens acht Fraktionen

Mit 89 Sitzen ist der Rassemblement National (RN) jetzt die stärkste Oppositionspartei, vor der links-außen-Partei La France insoumise (74 Sitze) und den konservativen Les Républicains (64 Sitze). Eigene Fraktionen bilden auch die Grünen (EELV) und die Sozialdemokraten (Parti socialiste), MoDem, Renaissance (ehemals En Marche!) und Horizons. Die 20 Abgeordneten, die unter dem Etikett „Diverse – links“ ins Parlament gezogen sind, könnten eventuell auch noch eine Fraktion bilden. Damit läge die Zahl der Fraktionen im neuen Parlament bei acht oder neun – jede mit parlamentarischen Privilegien wie dem Rederecht bei Debatten, der Mitarbeit in Ausschüssen oder dem Recht auf Aufwandsentschädigungen. Das können gerade verschuldete Parteien gut gebrauchen, und niemand so sehr wie der RN mit seinen 24 Millionen Euro Schulden.

Auch wenn La France insoumise (LFI) oder der RN nicht genügend Gewicht haben, um Gesetzesvorhaben zu stoppen, so können sie der Regierung im Falle tiefgehender Meinungsunterschiede gefährlich werden: Auf Antrag von mindestens 58 Abgeordneten kann ein Misstrauensvotum gegen die Regierung initiiert werden. La France insoumise hat bereits angekündigt, dies schon in der kommenden Woche zu machen.  

Neues Machtverhältnis zwischen Élysée-Palast und Assemblée nationale

Die aktuelle Regierung ist ohne Unterstützung oder mindestens Tolerierung durch die Républicains (LR) nicht handlungsfähig. Sie verfügen über genügend Abgeordnete in der Assemblée, um der Koalition von „Ensemble!“ die notwendige Mehrheit bei Gesetzesbeschlüssen zu geben, doch werden sie das nicht gratis tun. Die Beziehungen zwischen der „Macronie“ und den Konservativen sind schon länger angespannt, auch wenn es programmatische Berührungspunkte gibt, zum Beispiel die Konsolidierung des Staatshaushalts. LR haben damit im letzten Präsidentschaftswahlkampf auch Macron angegriffen, in dessen Amtszeit die Staatsverschuldung von 100 Prozent auf 120 Prozent des Bruttoinlandsproduktes angestiegen ist. Die Rentenreform, die vielleicht größte Baustelle der kommenden Jahre, kann nur mit LR durchgesetzt werden – oder gar nicht. Dabei ist zu erwarten, dass sowohl inner- als auch außerhalb des Parlaments die Auseinandersetzungen lebhaft sein werden. Sowohl LFI und das Bündnis „NUPES“ als auch der RN haben zum Beispiel in ihren Kampagnen stets abgelehnt, das Rentenalter zu senken, wie Macron und „Ensemble!“ es vorschlagen.  

Angesichts der neuen Zusammensetzung des Parlaments wird Macron – entgegen seiner bisherigen Gewohnheit – Kompromisse suchen müssen mit der Assemblée und dem Senat. In manchen Politikfeldern, so wahrscheinlich im Bereich der Steuer- und Sozialpolitik, werden die linke und rechte Opposition vermutlich eher die Regierungskoalition vor sich hertreiben als umgekehrt. Aus dem Élysée verlautet schon, dass eine Auflösung des Parlaments in ein bis zwei Jahren kommen könnte, um „die Regierungsfähigkeit und die Stabilität des Landes“ zu gewährleisten.

Regierungsfähigkeit und parlamentarische Kontrolle

Im Umfeld von Präsident Emmanuel Macron und Premierministerin Elisabeth Borne wird vor einer drohenden Regierungsunfähigkeit gewarnt. Die Reformfähigkeit des Landes stehe auf dem Spiel. Auf der anderen Seite steht, bei aller Unbequemlichkeit des Ergebnisses, ein Parlament mit einer starken Opposition, ohne das Macron nicht wird handeln können, zumindest nicht innenpolitisch. Damit kündigt sich für die Dauer der jetzigen Parlamentszusammensetzung eine für die fünfte Republik eher ungewöhnliche Notwendigkeit an: die Suche nach Kompromissen. Nicht mehr möglich ist ein fortgesetztes „Durchregieren“, wie es in den vergangenen fünf Jahren etwa hinsichtlich der Steuerpolitik, der Rentenreform (die wegen Covid-19 abgebrochen wurde) oder der Ausnahmegesetzgebung in der Pandemiepolitik sichtbar geworden ist. Auch bedenklich war die Praxis, Gesetze im Eilverfahren zu verabschieden. Das wird ohne eine fügsame Parlamentsmehrheit nicht mehr gehen.

Die wirtschaftliche und soziale Absicherung ab April 2020, mit der die Regierung Macron/Philippe die Pandemiebeschränkungen abfedern wollte, war eine der umfangreichsten überhaupt in Europa. Es hat aber offenbar nicht gereicht, um die politischen Fehler zum Beispiel im Umgang mit der schon bestehenden Armut im Land (welche 16 bis 19 Prozent der Bevölkerung betrifft) auszugleichen. Macron wurde von den Franzosen gegen Le Pen gewählt, weil er die vertrauenswürdigere außenpolitische Statur hat. Nun haben die Wähler eine starke Opposition ins Parlament gewählt, um ihm in der Innenpolitik Schranken zu setzen. Wie lange diese Konstellation tatsächlich halten wird, ist allerdings offen.

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