Autor:
Dr. Susanne Schmid
Hilfsorganisationen und Experten schätzen, dass in Deutschland etwa 200.000 bis 400.000 Frauen in der Prostitution sind – größtenteils unter Zwang. 90% der Frauen haben Migrationshintergrund und kommen vor allem aus Rumänien, Bulgarien und anderen Balkanstaaten, aber auch aus Afrika und Asien.
HSS: Unsere diesjährige Fachtagung trägt den Titel „An den Rändern der Gesellschaft: Besonders vulnerable Personen in der Zwangsprostitution“. Zwangsprostitution stellt eine schwere Verletzung der Menschenwürde dar. Die Opfer erleiden unvorstellbare physische und psychische Qualen. Viele der Opfer entstammen zudem „besonders schutzbedürftigen Personengruppen“, weil sie beispielsweise minderjährig, wohnungslos, drogenabhängig, asylsuchend und/oder traumatisiert sind. Die Zuhälter und Menschenhändler nutzen häufig gezielt deren Notsituation und Verwundbarkeit aus, um sie auszubeuten und zur Prostitution zu zwingen. Wie kann man diese besonders verletzlichen Gruppen vor Zwangsprostitution schützen?
Kerstin Schreyer: Zunächst bin ich der Überzeugung, dass Fachtagungen wie diese helfen, engagierte Experten zusammenzubringen und gemeinsam neue Lösungsansätze zu entwickeln. Es stimmt mich hoffnungsfroh, wenn ich sehe, mit wie viel Leidenschaft, Kompetenz und Engagement die Akteure gegen Frauenhandel vorangehen. Auch wird sich das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales zusammen mit anderen Ministerien und unter Einbindung fachpraktischer Expertise vertieft mit dem Thema Menschenhandel beschäftigen. Dies wird im Rahmen der interministeriellen
Arbeitsgruppe geschehen, die zur Erstellung des angekündigten umfassenden Gewaltschutz- und Gewaltpräventionskonzepts eingerichtet wurde. Wir wollen dabei in Abstimmung mit den Fachberatungsstellen Jadwiga und Solwodi insbesondere eine Verstärkung der Sensibilisierungs-/ Öffentlichkeitsmaßnahmen zur Prävention vor Menschenhandel diskutieren. Menschenhandel sichtbar machen, den Opfern eine Stimme geben – das sind wichtige Handlungsfelder beim Kampf gegen den Menschenhandel.
HSS: Neben dem Frauenhandel sind Frauen auch anderen Formen von Gewalt ausgesetzt. Was wird in Bayern getan, um Frauen vor Gewalt zu schützen und gewaltbetroffenen Frauen Hilfe und Unterstützung zu geben?
Kerstin Schreyer: Die Themen Gewaltprävention und Gewaltschutz liegen mir sehr am Herzen. Aktuell konzentrieren wir uns vor allem auf die Themen häusliche und sexualisierte Gewalt an Frauen. Ich habe hart dafür gekämpft und bin sehr froh, dass im Doppelhaushalt 2019/2020 die Mittel für Maßnahmen zur Bekämpfung von häuslicher und sexualisierter Gewalt gegen Frauen um 16 Millionen Euro erhöht wurden. Damit leisten wir einen gewaltigen Beitrag, um die Kommunen dabei zu unterstützen, das Hilfesystem für von häuslicher oder sexualisierter Gewalt betroffene Frauen zu verbessern. Mit einer neuen Förderrichtlinie habe ich einen zeitlich befristeten finanziellen Anreiz zur Schaffung neuer Frauenhausplätze und zur bedarfsgerechten Umgestaltung vorhandener Plätze geschaffen. Zusätzlich habe ich die Personalschlüssel sowohl für die Frauenhäuser als auch für die Fachberatungsstellen und Notrufe für Frauen, die von häuslicher und sexualisierter Gewalt betroffen sind, erhöht. Damit liegt Bayern bei den landesweit verbindlichen Vorgaben für das in Frauenhäusern vorzuhaltende Fachpersonal im bundesweiten Vergleich nun an der Spitze. Außerdem werde ich second-stage-Projekte modellhaft fördern. Hier geht es um Frauen und ihre Kinder, die die intensive psychosoziale Beratung im Frauenhaus nicht oder nicht mehr benötigen. Inhalt der Modellprojekte ist neben der Nachbetreuung der Frauen nach der Akutphase ein begleitendes Management für den Übergang in eine eigene Wohnung mit Wohnraumakquise und -vermittlung. Und ich möchte die Maßnahmen für Opfer um Maßnahmen für Täter ergänzen. Geplant sind hier Fachstellen für Täterarbeit, um bei diesen eine Verhaltensänderung zu bewirken. Zu guter Letzt fördern wir die Einrichtung einer Landeskoordinierungsstelle gegen häusliche und sexualisierte Gewalt.
HSS: Gibt es über ihr Engagement bei der Bekämpfung von Menschenhandel und bei der Verbesserung des Hilfesystems für von häuslicher und sexualisierter Gewalt betroffener Frauen hinaus noch weitere Themen im Gewaltbereich, welche Sie in der nächsten Zeit angehen möchten?
Kerstin Schreyer: Im Rahmen des Drei-Stufen-Planes zum Gewaltschutz und zur Gewaltprävention werden wir uns auch umfassend Gedanken machen, wie wir Gewalt in unserer Gesellschaft generell vorbeugen können. Es gibt zum Beispiel weniger sichtbare Formen von Gewalt, wie die seelische Gewalt, neue Formen von Gewalt (wie die digitale Gewalt), sowie grundsätzlich andere Einstellungen zu und Definitionen von Gewalt, die z.B. von Menschen aus Kriegsgebieten zu uns gebracht werden. Eine Beschäftigung damit wird sehr dynamisch sein. Es geht mir darum, unterschiedliche Formen und Orte von Gewalt sichtbar zu machen. Das trifft vor allem auch auf Gewaltformen zu, die erst bei genauem Hinschauen sichtbar werden, deren Folgen aber der körperlichen Gewalt oft in nichts nachstehen. Ich denke hier etwa an die seelische Gewalt. Sie hat viele Gesichter und weil die Folgen nicht unmittelbar sichtbar sind, ist es für Opfer manchmal besonders schwer, sich Unterstützung und Hilfe zu holen. Gerade bei seelischer Gewalt sind Opfer und Täter oftmals in komplexen Gewaltspiralen gefangen. Hier verwischen besonders oft die Grenzen, wer Opfer und wer Täter ist. Dies ist unabhängig vom Geschlecht, denn gerade subtile Formen von Gewalt beherrschen auch Frauen besonders gut. Entscheidend ist für mich nicht, wer woran Schuld hat, sondern dass wir Tabus aufbrechen und jeder und jede die Hilfe bekommt, die er braucht. Insgesamt müssen wir anerkennen, dass nicht nur Frauen Opfer von Gewalt werden können, sondern auch Männer. Mir ist wichtig, dass jede und jeder, der Hilfe braucht, einen Ansprechpartner findet. Meinem Haus stehen in den nächsten zwei Jahren jährlich vier Millionen Euro für die sog. dritte Stufe des Drei-Stufen-Plans zur Verfügung.
HSS: Wo stehen wir heute im Kampf gegen Frauenhandel?
Kerstin Schreyer: Der Kampf gegen Frauenhandel ist eine gesamteuropäische Aufgabe. Natürlich müssen wir auch auf nationaler Ebene und auf Landesebene der Bekämpfung von Menschenhandel höchste Priorität einräumen. Die Problematik ist sehr vielschichtig, sodass auch in Bayern eine Zusammenarbeit von allen Akteuren notwendig ist. Hierfür haben wir in Bayern bereits seit 2004 eine Zusammenarbeitsvereinbarung zum Schutz von Opferzeuginnen und Opferzeugen in Menschenhandelsfällen. Die Polizei, die Staatsanwaltschaft, die Fachberatungsstellen, die Sozialbehörden und die Agenturen für Arbeit arbeiten dabei sehr eng zusammen. Und wir haben auch die Kooperationsgruppe
„Opferschutz in Menschenhandelsfällen“. In dieser Runde diskutieren wir aktuelle Themen, Neuerungen und Problemlagen zum Thema Menschenhandel und versuchen, gemeinsame Lösungsstrategien zu entwickeln. Es muss unser Ziel sein, im Kampf gegen diese moderne Form der Sklaverei mehr und mehr Etappensiege zu erreichen, um (potentielle) Opfer zu schützen und Menschenhändler hart und effektiv bestrafen zu können.
HSS: Frau Staatsministerin, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Dr. Susanne Schmid, Hanns-Seidel-Stiftung.