80 Jahre Kriegsende - ein Gastbeitrag von Dr. Markus Söder
Erinnern heißt Verantwortung übernehmen
Der Bayerische Ministerpräsident Dr. Markus Söder: "Wir können den Horror von damals nicht ungeschehen machen, aber wir haben Verantwortung für das, was jetzt und heute bei uns geschieht."
Bayerische Staatskanzlei/Jörg Koch
In unserer Geschichte gibt es keine tiefere Zäsur als das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa und das Ende des nationalsozialistischen Terror-Regimes. Jeder Jahrestag ist ein Tag der Trauer um die Opfer, aber auch ein Tag der Dankbarkeit gegenüber den Befreiern und ein Tag der Verantwortung. „Nie wieder!“ muss für immer gelten.
Vor 80 Jahren beendeten die Alliierten mit unfassbar großem Einsatz die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Die bedingungslose Kapitulation am 8. Mai 1945 bedeutete das Ende von Bombennächten und Todesmärschen, das Ende beispielloser deutscher Verbrechen und des Zivilisationsbruches der Shoah.
In Bayern glichen viele Städte wie München, Nürnberg oder Würzburg einem Trümmerfeld. Gleichzeitig kamen ca. 2 Mio. Flüchtlinge und Vertriebene nach Bayern und fanden hier eine neue Heimat. Menschen, die durch die Bombenangriffe Wohnung und Besitz verloren hatten, Überlebende des Holocaust, Vertriebene aus dem Osten und Soldaten der Alliierten standen gemeinsam vor einer riesigen Herausforderung. Sie mussten aus den Trümmern einer Gesellschaft, aus den Hinterlassenschaften eines Unrechtsstaats einen neuen demokratischen Rechtsstaat aufbauen und aus den Ruinen und zerstörten Industrieanlagen den Wiederaufbau schaffen.
In Bayern war die Verkehrsinfrastruktur und damit die Versorgung der Wirtschaft mit Rohstoffen zusammengebrochen, die Produktion nahm um rund zwei Drittel, die landwirtschaftliche Produktion um etwa ein Viertel ab.
In ganz Europa gab es wenig Güter und Devisen, der Handel war kollabiert. Es drohte eine Hungerkatastrophe. Gleichzeitig baute die Sowjetunion die totalitäre Herrschaft in den besetzten Gebieten aus. Die kommunistischen Parteien im Westen nutzten Not und Elend, um die angeschlagenen politischen Systeme zu destabilisieren.
In dieser ausweglosen Lage brachten die USA mit dem Marshall-Plan als „Hilfe zur Selbsthilfe“ Wirtschaftshilfen und Lebensmittel nach Europa. Damit haben die USA sehr schnell und in großer Weitsicht langfristig Europa stabilisiert und uns vor dem Kommunismus bewahrt.
Transatlantische Freundschaft als Fundament bayerischer Stärke
Umso bitterer ist es, dass sich aktuell die Frage stellt, ob das bisherige transatlantische Wertebündnis für Freiheit, Respekt und Demokratie noch fortbesteht. Ich bin seit meiner Jugend überzeugter Transatlantiker und Optimist und verliere die Hoffnung auf eine gemeinsame transatlantische Zukunft nicht. Unsere gemeinsame Vergangenheit verbindet. Ohne Marshallplan hätte es kein Wirtschaftswunder und kein wirtschaftlich starkes Europa gegeben. Ohne die Politik der Westbindung, ohne NATO und US-Truppenpräsenz in Mitteleuropa hätte es über viele Jahrzehnte kein freies Europa gegeben. Und ohne den amerikanischen Glauben an Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmungsrecht wäre kein geeintes Europa und kein wiedervereinigtes Deutschland möglich geworden. Dafür sind wir den USA bis heute sehr dankbar.
Dass Bayern sich nach dem Krieg so schnell erholte, verdanken wir sowohl den Amerikanern als auch dem enormen Arbeitseinsatz aller Menschen in Bayern, an dem die Vertriebenen einen großen Anteil haben. Nach der Währungsreform von 1948 erholte sich die bayerische Wirtschaft so rasch, dass die Menschen von einem „Wunder“ sprachen. In der Sozialen Marktwirtschaft gelang es, marktwirtschaftliche Freiheit und soziale Sicherung für die Menschen miteinander zu verbinden.
In Bayern hatten wir zusätzlich das Glück der Demokratisierungspolitik der USA. Die Besatzungsmacht USA ließ Parteien schon 1945 wieder zu Kommunalwahlen 1946. Die US-Militärregierung beauftragte den damaligen Ministerpräsidenten Hoegner, die Ausarbeitung einer Verfassung zu veranlassen. Bei der Volksabstimmung sagten 70 Prozent „Ja“ zur Bayerischen Verfassung.
Seit Dezember 1946 ist unser Freistaat ein demokratischer Kultur-, Sozial- und Rechtsstaat, und alle Bayerischen Ministerpräsidenten verstehen sich als Gestalter des Fortschritts für ein starkes Bayern nach innen und außen. Sie sind Strategen mit Blick für das große Ganze, mutig, innovativ und immer zum Wohl für die Menschen in Bayern. Wilhelm Hoegner und Hans Ehard machten sich um unsere Verfassungen verdient und sorgten für eine starke Stellung Bayerns im föderalen Deutschland. Mit Hanns Seidel und Alfons Goppel begann der Aufstieg Bayerns vom armen Agrarland zum modernen Industriestandort: Im ganzen Land wurden neue Gymnasien und Universitäten gegründet und Verkehrsachsen gebaut. Franz Josef Strauß pflegte internationale Kontakte, wie kein Ministerpräsident vor ihm. Er machte Bayern zum Standort der europäischen Luftfahrtindustrie und zum Land des Fortschritts. Max Streibl, Edmund Stoiber, Günther Beckstein und Horst Seehofer bauten die Spitzenposition Bayerns weiter aus und vergrößerten die internationalen Kontakte zu einem riesigen Netzwerk. Heute ist Bayern in aller Welt hoch angesehen und ein attraktiver Hightech-Standort. Bayern geht es bis heute besser als anderen Bundesländern. Der Freistaat ist das sicherste Land, hat das stärkste Wachstum und ist das Silicon Valley Europas. Dank ausgeglichenem Haushalt hat Bayern auch heute finanzielle Spielräume für Zukunftsinvestitionen. In meiner Amtszeit investiert Bayern mit der Hightech Agenda 5,5 Mrd. € in die Zukunft, so viel wie kein anderes Land. Und das oberbayerische Pfaffenhofen ist mit Mondkontrollzentrum von ESA und DLR das europäische Houston geworden.
Gleichzeitig kamen ca. 2 Mio. Flüchtlinge und Vertriebene nach Bayern und fanden hier eine neue Heimat.
© IMAGO / Rolf Poss
„Nie wieder“ ist Jetzt: Verantwortung für unsere Demokratie
Bis heute ist Bayern ein besonderes Land. Das Besondere in Bayern ist der Zusammenhalt und die einzigartige Verbindung von Tradition und Fortschritt. Dazu gehört auch das Bewusstsein für die historische Verantwortung und die Erinnerungskultur in unserem Land.
80 Jahre nach Kriegsende ist die Erinnerungskultur wichtiger denn je. Was wir lange für unmöglich hielten, ist Realität geworden: Der Krieg ist auf europäischen Boden zurückgekehrt, die Radikalisierung an den Rändern unserer Gesellschaft nimmt zu, und wir verzeichnen leider auch in Bayern wachsenden Antisemitismus. Die Anfeindungen, denen jüdisches Leben ausgesetzt ist, erreichen erschreckende Ausmaße. Die Wahlergebnisse und Umfragewerte für eine Partei, die in Teilen als gesichert rechtsextrem gilt, sind besorgniserregend.
Die Geschichte lehrt uns: Wir dürfen keine Weimarer Entwicklungen zulassen. Weimar war kein Einzelereignis, sondern ein Prozess. Am Ende waren Demokraten zu müde und zu schwach, um Entscheidungen zu treffen und Demokratie und Rechtsstaat zu retten. Auch das Schweigen von Millionen Deutschen hat ermöglicht, dass Freunde, Nachbarn, Bekannte erst beschimpft und gedemütigt, dann Schritt für Schritt ihrer Rechte beraubt und aus dem gesellschaftlichen Leben gedrängt wurden, bis man sie schließlich in den Tod schickte.
Deshalb stehen wir alle, als Politik und als Gesellschaft in der Pflicht. Wir müssen unsere freiheitlich-demokratischen Grundwerte durchsetzen und dafür mit allen Mitteln des Rechtsstaats einstehen. Antisemitismus, Rassismus und Menschenverachtung haben keinen Platz bei uns.
Mein Schutzversprechen steht: Bayern schützt seine jüdischen Bürgerinnen und Bürger. Bei uns wird jede Form von Antisemitismus mit der vollen Härte des Rechtsstaats verfolgt. Bayern bleibt ein sicherer Ort für jüdisches Leben – heute und in Zukunft. Jüdisches Leben ist ein bedeutender Teil Bayerns, jüdisches Leben gehört zu Bayern dazu. Deshalb ist es eine große Ehre für den Freistaat, dass die Europäische Rabbinerkonferenz vor zwei Jahren nach München gezogen ist. Wir sind stolz, dass die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern heute die größte jüdische Gemeinde in Deutschland ist. Das erfüllt uns mit
Dankbarkeit und ist Verpflichtung zugleich. Unsere Partnerschaft ist seit dem 7. Oktober 2023 wichtiger denn je. Das klare Bekenntnis zu Israel ist Teil unserer historischen Verantwortung gegenüber dem Staat Israel und Teil unserer Verpflichtung für Demokratie, Freiheit und Frieden in unserem Land.
Für die Bayerische Staatregierung ist klar: „Nie wieder“ ist unser Auftrag. Der Freistaat Bayern steht für eine Kultur der Erinnerung – gegen das Vergessen und vor allem gegen jeglichen Versuch der Relativierung. Dazu gehört die Förderung von Gedenkstätten als zentralen Orten der Erinnerung und die Bildungsarbeit an den Schulen. Auch dafür haben wir die Verfassungsviertelstunde an bayerischen Schulen eingeführt. In Berlin haben wir im Koalitionsvertrag niedergelegt, dass der Wert von Freiheit und Demokratie auch auf unserer Erinnerungskultur beruht und wir Gedenkstätten, Dokumentationszentren und Bildungsangebote weiter unterstützen.
80 Jahre Kriegsende ist Mahnung und Auftrag für uns alle: Wir können den Horror von damals nicht ungeschehen machen, aber wir haben Verantwortung für das, was jetzt und heute bei uns geschieht.
Setzen wir uns gemeinsam ein für Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Wir schulden es den Opfern.
Wir schulden es den Überlebenden.
Wir schulden es allen künftigen Generationen.
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Bayerischer Ministerpräsident