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Total Defence
Mehr als nur ein Konzept für nationale Verteidigung?

Autorin/Autor: Christoph Bertele

In Zeiten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sowie zunehmender hybrider Bedrohungen rückt das Konzept der „Total Defence“ verstärkt in den Fokus europäischer Sicherheitsdebatten. Der Begriff steht für einen gesamtstaatlichen und gesamtgesellschaftlichen Ansatz, der militärische Fähigkeiten mit ziviler Vorsorge, wirtschaftlicher Widerstandskraft und gesellschaftlicher Resilienz verbindet. Erfahrungen aus Nord- und Osteuropa zeigen, wie das funktionieren kann.

 

Soldaten in Uniform arbeiten an Computern.

Angesichts wachsender hybrider Bedrohungen gewinnt das Konzept der "Total Defence" in den sicherheitspolitischen Diskussionen Europas zunehmend an Bedeutung.

© Acronym/Adobe Stock

Die im Jahr 2022 ausgerufene „Zeitenwende“ markiert eine grundlegende Neuausrichtung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Doch die aktuellen Herausforderungen zeigen: Sicherheit lässt sich heute nicht mehr allein durch Panzer, Flugzeuge oder Raketen garantieren. Hybride Bedrohungen, Cyberangriffe und Desinformationskampagnen, politisch provozierte Migrationsbewegungen bis hin zu Wahlkampfbeeinflussung treffen ganze Gesellschaften, nicht nur Armeen. 

Das jüngste Bekenntnis der NATO-Staats- und Regierungschefs unterstreicht diese Entwicklung. Im Rahmen des neuen 5-Prozent-Ziels sollen 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für militärische Verteidigung aufgewendet werden. Weitere 1,5 Prozent sind für Aufgaben wie den Schutz kritischer Infrastrukturen, die Verteidigung digitaler Netzwerke, die Sicherstellung ziviler Vorbereitung und Resilienz, Innovation sowie die Stärkung der verteidigungsindustriellen Basis vorgesehen.

Die Erfahrungen aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine haben Europa eindringlich vor Augen geführt, wie entscheidend eine widerstandsfähige Gesellschaft für die Abschreckung, Landes-, sowie Bündnisverteidigung ist. Und das gilt nicht nur im eigentlichen Kriegsfall, sondern bereits in der Phase hybrider Kriegsführung. 

Total Defence als Schlüsselkonzept für staatliche und gesellschaftliche Verteidigung?

Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang immer häufiger fällt, ist das Konzept der Total Defence, welches im Deutschen auch als Gesamtverteidigung bezeichnet wird. Es beschreibt ein umfassendes Verteidigungskonzept, das alle Ebenen einer Gesellschaft einbezieht. Neben der klassischen militärischen Landesverteidigung umfasst Total Defence auch zahlreiche nicht-militärische Bereiche, von der zivilen Verteidigung und der zivil-militärischen Zusammenarbeit über wirtschaftliche und politische Strukturen bis hin zur psychologischen Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung.

Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass es sich bei Total Defence längst um kein theoretisches Konstrukt mehr handelt, sondern in vielen europäischen Ländern bereits konkret umgesetzt wird. Besonders Skandinavien demonstriert eindrücklich, wie umfassende Verteidigungskonzepte praktisch ausgestaltet werden können. Doch auch unsere Nachbarn in Mittel- und Osteuropa entwickeln zunehmend ihre eigenen Modelle einer gesamtstaatlichen Verteidigung. Und schließlich wirft der Krieg in der Ukraine drängende Fragen auf: Welche Lehren lassen sich aus diesen Erfahrungen ziehen, und welche davon könnten auch für Deutschland richtungsweisend sein?

Um genau diese Fragen zu diskutieren, lud die Hanns-Seidel-Stiftung zu einer internationalen Expertenrunde mit Fachleuten aus Finnland, Schweden, Estland und Polen. Ziel der Veranstaltung war es, den aktuellen Stand der Total-Defence-Konzepte, die drängendsten Herausforderungen sowie mögliche Ansätze für die Zukunft zu beleuchten, miteinander zu vergleichen und konkrete Handlungsempfehlungen zu erarbeiten.

Die nordische Erfahrung – Total Defence als Erfolgsmodell?

Sowohl Finnland als auch Schweden verfügen über eine lange Tradition im Bereich der Total Defence. Ihre politische Neutralität und militärische Bündnisfreiheit während des Kalten Krieges, die fortwährende Bedrohung durch einen möglichen Nuklearkrieg in Europa sowie das Risiko einer sowjetischen Invasion machten die Entwicklung eines umfassenden Verteidigungskonzepts notwendig. Hinzu kamen strukturelle und geografische Faktoren: große Landflächen bei vergleichsweiser geringer Bevölkerungsdichte erforderten eine gut durchdachte, gesamtgesellschaftliche Verteidigungsstrategie, um die nationale Autonomie und Handlungsfähigkeit in Krisenzeiten sicherstellen zu können. 

Bereits früh schuf Finnland die Grundlagen für ein eigenes Total-Defence-Konzept, das auch unter dem Begriff Comprehensive Security bekannt ist. Eine zentrale Rolle spielten dabei gesellschaftliche Strukturen wie bestehende Organisationen im Bereich der Zivilverteidigung sowie ein starkes Gefühl nationaler Einheit, das insbesondere während des Winterkriegs 1939/1940 gefestigt wurde. Es handelt sich dabei um ein umfassendes Konzept, das weit über klassische Kriegsplanung hinausgeht und sämtliche Formen von Krisen- und Katastrophenlagen mit einbezieht.

Das finnische Total-Defence-Modell basiert auf einem tief verankerten Vertrauensverhältnis zwischen allen sicherheitsrelevanten Akteuren und der Zivilgesellschaft. Dieses Vertrauen wird durch regelmäßige nationale Verteidigungskurse, Netzwerktreffen und gezielte Informationskampagnen gestärkt. Das daraus resultierende Bewusstsein für die sicherheitspolitische Lage zeigt sich auch in der Bevölkerung, die durch ein hohes Maß an Engagement und Verteidigungsbereitschaft gekennzeichnet ist.

Aktuell liegt der Schwerpunkt vor allem auf der Förderung psychologischer und materieller Resilienz, sei es durch Aufklärungskampagnen und Trainingsmaßnahmen oder durch den Aufbau strategischer Vorräte zur Absicherung der Versorgung in Krisenzeiten.

Schweden, das als Begründer des Total-Defence-Konzepts gilt, setzt strategisch stark auf eine enge Verzahnung ziviler und militärischer Akteure, um eine umfassende Verteidigungskonzeption zu entwerfen.

Im Vergleich zu Finnland gibt es jedoch eine entscheidende Besonderheit in der Entwicklung. Die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion bis zum Beginn der russischen Aggressionen gegen die Ukraine im Jahr 2014 wird in Schweden oft als „strategic timeout“, eine sicherheitspolitische Auszeit, bezeichnet.

Seit 2015 arbeitet Schweden intensiv an der Neuausrichtung seines Total-Defence-Konzepts. Hierfür werden sowohl die Zuständigkeiten als auch Verantwortlichkeiten einzelner Akteure aus dem zivilen und militärischen Sektor definiert, sowie Strukturen zur Stärkung der nationalen Resilienz geschaffen. Ein bedeutender Schritt war die Einführung eines eigenen Ministers für Zivilverteidigung, der die zivile Komponente der Verteidigung parallel zum Verteidigungsminister innerhalb des Verteidigungsministeriums koordiniert.

Darüber hinaus arbeitet Schweden aktiv am Ausbau internationaler Kooperationen. Hierbei sollen bestehende Strukturen wie die Gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik der EU (GASP) sowie die NATO-Strukturen einbezogen und neu gedacht werden. Gleichzeitig werden regionale Partnerschaften in Nordeuropa gestärkt und ausgebaut.

Der osteuropäische Ansatz – Total Defence in einer gefährlichen Nachbarschaft

Die geografische Nähe zu Russland hat sowohl in Polen als auch in den baltischen Staaten wie Estland seit jeher zu einer großen Bedrohungswahrnehmung geführt. Historische Faktoren, wie die frühere Eingliederung in den Warschauer Pakt oder die Zugehörigkeit zur Sowjetunion, verhinderten jedoch die Entwicklung eigenständiger Total-Defence-Konzepte. Total Defence muss aus diesen Gründen vollständig neu gedacht und ausgearbeitet werden. 

Die polnische Verteidigungsstrategie legt seit 2014 den Fokus darauf, eine glaubwürdige Abschreckung an der NATO-Ostflanke aufzubauen, um russische Aggressionen wirksam zu verhindern. Hierfür wurden sowohl die militärischen Kapazitäten erheblich ausgebaut als auch internationale Kooperationen intensiviert.

Im zivilen Bereich bestehen jedoch weiterhin erhebliche Lücken. Es fehlen ausreichende Schutzräume, funktionierende Evakuierungspläne und Vorräte an lebenswichtigen Gütern wie Lebensmitteln oder Medikamenten. Politische Blockaden, geteilte Zuständigkeiten zwischen Ministerien sowie eine gewisse Skepsis in der Bevölkerung gegenüber einer engen Verzahnung von Staat und Gesellschaft bremsen zudem Reformen.

Mit dem „Act on Civil Protection and Civil Defence“ sowie dem „Civil Protection and Defence Programme 2025–2026“ wurden erste gesetzliche Schritte eingeleitet. Dazu gehören Pläne für Warnsysteme, Evakuierungsstrategien, den Bau von Schutzräumen und eine dauerhafte Finanzierung. Dennoch steht Polen bislang erst am Anfang, ein umfassendes Total-Defence-Modell zu entwickeln.

Die geografische Lage Estlands, weitgehend isoliert vom Kern Europas, mit einer direkten Grenze zu Russland, sowie die geringe Größe des Landes stellen besondere sicherheitspolitische Herausforderungen dar. Hinzu kommt die ständige Konfrontation mit hybriden Bedrohungen aus Russland, etwa durch Verletzungen des nationalen Luftraums oder gezielte Cyberangriffe. Diese Faktoren haben in Estland zu einer hohen Sensibilität und einem ausgeprägten Bewusstsein für Sicherheits- und Verteidigungsfragen geführt.

Die estnische Verteidigungsstrategie beruht dabei im Wesentlichen auf zwei Säulen: Erstens auf der Fähigkeit zu einer schnellen militärischen Erstreaktion im Kriegsfall, um Zeit zu gewinnen, bis NATO-Truppen Unterstützung leisten können. Zweitens auf der Schaffung gesellschaftlicher Resilienz, insbesondere in Regionen mit einem großen  Anteil an russischsprachiger Bevölkerung.

Hierfür wurden sowohl die regionale als auch die internationale Kooperation intensiviert, Informationssysteme zur Erfassung von Standortdaten militärischer und ziviler Ressourcen aufgebaut und gezielte Informationskampagnen gegen Desinformation durchgeführt. 

Estland plant zudem, seine Verteidigungsausgaben im Durchschnitt auf 5,4 % des BIP bis zum Jahr 2029 zu erhöhen. Damit verfolgt das Land deutlich ambitioniertere Ziele als die NATO-Vorgaben. Aufgrund der vergleichsweise kleinen Wirtschaftsleistung bleibt das Gesamtvolumen zwar begrenzt, der politische Wille zur Priorisierung von Sicherheit ist jedoch unübersehbar.

Klare Planung, doch fehlende Zuständigkeiten?

Auch wenn viele europäische Staaten mittlerweile über eigene Total-Defence-Strategien verfügen, stockt deren Umsetzung häufig an der mangelnden institutionellen Koordination. Es fehlt oftmals an einer zentralen Stelle, die staatliche, behördliche und private Akteure wirksam zusammenführt und die Gesamtverantwortung übernimmt.

Schweden geht hier mit gutem Beispiel voran: Ein eigener Minister für Zivile Verteidigung bündelt ressortübergreifende Zuständigkeiten und sorgt für klare Führungsstrukturen. In anderen Ländern hingegen, wie etwa Polen, erschweren konkurrierende Ministerien, politische Polarisierung und komplexe Verwaltungsstrukturen eine kohärente Strategieentwicklung.

Ein wirksames Total-Defence-Konzept erfordert klare Zuständigkeiten und eine institutionelle Verankerung auf allen Ebenen. Ohne eine koordinierende Leitstruktur droht der gesamtstaatliche Ansatz in Einzelinitiativen zu zerfallen.

Boost für die Zivile Verteidigung

Eine zentrale Schwachstelle in vielen Total-Defence-Strategien ist der Bereich der Zivilen Verteidigung, also jener Teil, der Schutzräume, Notfallversorgung und Anlaufstellen für die Bevölkerung im Ernstfall bereitstellen soll.

In der langen Phase relativer sicherheitspolitischer Ruhe nach dem Kalten Krieg wurden viele dieser Strukturen abgebaut. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann, MdL, setzt sich daher im Rahmen der Innenministerkonferenz nachdrücklich für ein bundesweites Schutzraumkonzept ein. Eine Auswertung ergab, dass von ehemals rund 500 Bunkern in Bayern nur noch etwa 150 existieren. Keiner davon ist derzeit einsatzbereit. 

Auch die Bevorratung von Nahrungsmitteln und medizinischen Gütern, Notfallpläne sowie zentrale Koordinationsstellen sind vielerorts unzureichend oder gar nicht vorhanden. Finnland zeigt, wie es besser gehen kann: Mit einem klar definierten Notfallplan, ausreichenden staatlichen Reserven und Schutzunterkünften für die gesamte Bevölkerung ist das Land im Ernstfall vorbereitet.

Fest steht: Total Defence braucht eine starke Zivile Verteidigung. Ohne funktionierende Strukturen im zivilen Bereich bleibt der gesamtstaatliche Verteidigungsansatz lückenhaft und die Handlungsfähigkeit eines Staates in Krisen deutlich eingeschränkt.

Gesellschaftliche Resilienz gefragt

Eine Gesellschaft, die sich verteidigen will, muss resilient sein, sowohl psychologisch wie materiell. Psychologische Resilienz bedeutet Vorbereitung, Vertrauen in staatliche Institutionen und Widerstand gegen Desinformation. Materielle Resilienz heißt Zugang zu lebenswichtiger Versorgung, Schutz und Selbstverteidigungsmitteln.

Finnland zeigt, wie es geht. So setzt das Land auf flächendeckende Informationskampagnen, regelmäßige Schulungen und ein hohes Maß an Transparenz im Umgang mit Sicherheitsfragen. Estland wiederum konzentriert sich besonders auf die Stärkung der Resilienz in russischsprachigen Regionen, um gesellschaftlichen Zusammenhalt auch in hybriden Bedrohungslagen zu sichern. In anderen Ländern fehlt es hingegen oft an Akzeptanz, politischem Willen oder geeigneten Konzepten.

Wer Total Defence ernst nimmt, muss Resilienz zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe machen.

Kritische Infrastruktur bleibt schwieriges Thema

Wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, bleibt der Schutz kritischer Infrastruktur ein zentrales und zugleich ungelöstes Problem. Gerade im Kontext hybrider Kriegsführung ist die Gefahr gezielter Angriffe auf Stromversorgung, Serversysteme oder Verkehrswege hoch. Besonders im Fokus steht dabei die Rolle der Privatwirtschaft, denn viele dieser sensiblen Bereiche liegen nicht in staatlicher Hand.

Deshalb braucht es konkrete Schutzpläne, eine bessere Koordination zwischen staatlichen und privaten Akteuren und gezielte Anreize, damit sich Unternehmen aktiv an der Absicherung systemrelevanter Bereiche beteiligen. 

Total Defence braucht politischen Willen und Tempo

Der Krieg in der Ukraine zeigt deutlich: Verteidigungsfähigkeit ist längst nicht mehr nur eine Frage militärischer Stärke. Ein Staat und seine Gesellschaft müssen in der Lage sein, sich als Ganzes zu verteidigen. Im Ernstfall ebenso wie in der Grauzone hybrider Bedrohungen.

Auch in Deutschland wurde der Handlungsbedarf erkannt. Der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD stellt klar, dass Gesamtverteidigung als überragendes öffentliches Interesse priorisiert werden soll. Staatliche und gesellschaftliche Akteure sollen effektiv zusammenarbeiten, Vorsorgegesetze überarbeitet und Strukturen gestärkt werden. Die finanziellen Mittel dafür sollen durch die Reform der Schuldenbremse ermöglicht werden. Ergänzend dazu gibt die Rahmenrichtlinie für Gesamtverteidigung erste strategische Leitlinien vor.

Doch Total Defence endet nicht an nationalen Grenzen. Hybride Kriegsführung wirkt grenzüberschreitend und verlangt nach der Schaffung gut koordinierter, multinationaler Systeme. Ein europäischer oder NATO-weiter Total-Defence-Ansatz ist deshalb langfristig unerlässlich. Erste Schritte in diese Richtung sind unter anderem in den Debatten über eine europäische Verteidigungsunion erkennbar. Dennoch bleibt das sicherheitspolitische Denken bislang weitgehend national verankert.

Ein tragfähiges Modell der umfassenden Gesamtverteidigung muss militärische Abschreckung mit gesellschaftlicher Resilienz, wirtschaftlicher Vorsorge und handlungsfähigen staatlichen Strukturen verbinden. Skandinavische und baltische Staaten zeigen, wie das gelingen kann. Die Aufgabe besteht nun darin, diese Erfahrungen entschlossen auf nationale Gegebenheiten zu übertragen. Koordiniert, pragmatisch und mit der nötigen Entschlossenheit.

Kontakt

Leiterin: Andrea Rotter, M.A.
Außen- und Sicherheitspolitik
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