Auch wenn sich derzeit Gerichte mit dem Ausgang der Wahl befassen, heißt der nächste Präsident der Vereinigten Staaten mit großer Wahrscheinlichkeit Joe Biden. Mit einer Biden-Administration bieten sich eine Reihe von Anknüpfungspunkten, um die transatlantischen Beziehungen zu revitalisieren und auf gemeinsame Herausforderungen auszurichten. Dies kann aber nur unter zwei Bedingen erfolgen: Deutschland und Europa müssen dem Ruf nach internationaler Zusammenarbeit einer Biden-Administration folgen und eigene Angebote auf den Tisch legen, um für die USA ein attraktiver Partner zu sein. Dafür müssen wir selbst mehr außenpolitische Verantwortung übernehmen, vor allem im Bereich der Sicherheits-und Verteidigungspolitik.
Was wissen wir bereits über Joe Bidens mögliche Außenpolitik? Der Wahlkampf stand klar im Zeichen von Corona und des Krisenmanagements, sodass außenpolitische Themen, die bei US-Präsidentschaftswahlen ohnehin eine untergeordnete Rolle spielen, wenig Beachtung fanden. Während die Trump-Administration kein außenpolitisches Programm für eine zweite Amtszeit vorstellte, sondern eine Verschärfung der bisherigen America-First-Politik vermuten ließ, fiel es der demokratischen Partei lange Zeit schwer, ein kohärentes außenpolitisches Programm zu formulieren, das über „Nicht-Trump“ hinausging. Grund hierfür sind konkurrierende Ideen innerhalb des demokratischen Lagers, wie man die Außenpolitik der USA künftig ausrichten soll. Während sich das ältere Parteiestablishment für eine Restoration der amerikanischen Außenpolitik-Tradition vor Donald Trump ausspricht, plädiert eine wachsende Gruppierung innerhalb der demokratischen Partei für eine Neubewertung von Amerikas Außenpolitik aufgrund der drastischen Veränderungen des internationalen Umfeldes. Joe Biden selbst kann am ehesten als Vertreter des internationalen Liberalismus charakterisiert werden, der sich der Förderung der liberalen Weltordnung samt Freihandel, liberaler und demokratischer Grundprinzipien und multilateraler Kooperation verschrieben hat. Welche konkrete Ausrichtung eine Biden-Außenpolitik allerdings annehmen wird, lässt sich wohl frühestens mit den personellen Entscheidungen bei der Kabinettsbildung erahnen. Auf seiner Homepage hat Biden bereits vier Schwerpunkte für seine Administration definiert, die er zuerst angehen möchte: (1) die schnelle und auf der Wissenschaft basierende Bekämpfung der Corona-Pandemie in den USA, (2) die Wiederbelegung der US-Wirtschaft, (3) die Bekämpfung des strukturellen Rassismus und Schaffung von Chancengleichheit sowie (4) die Eindämmung des Klimawandels. Biden außenpolitisches Wahl-Programm gibt darüber hinaus einige Hinweise darauf, welche außenpolitischen Prioritäten eine Biden-Administration setzen würde:
Im Vergleich zu einer weiteren Amtszeit von Donald Trump, die vermutlich Schadensbegrenzung in das Zentrum deutscher und europäischer Politik gerückt hätte, eröffnet eine Biden-Administration also die Möglichkeit, die transatlantischen Beziehungen wieder auf ein solides Fundament zu stellen. Allerdings wird die Biden-Administration innen- wie geopolitischen Zwängen unterliegen, die die amerikanische Außenpolitik mittel- bis langfristig prägen und Deutschland sowie Europa als Ganzes zu einer deutlich aktiveren Rolle zwingen werden. Auch werden bestehende transatlantische Konflikte nicht verschwinden.
Außenpolitik findet nicht in einem Vakuum statt. Aufgrund der schwierigen innenpolitischen Lage wird Joe Biden deutlich in seinem außenpolitischen Handeln eingeschränkt sein. Zum einen wird er mit einem stark polarisierten Kongress zusammenarbeiten müssen. Während die Demokraten um Speaker of the House Nancy Pelosi ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus verteidigen konnten, bleibt der für die Außenpolitik deutlich wichtigere Senat mit hoher Wahrscheinlichkeit in republikanischer Hand. Damit die Demokraten die Kontrolle im Senat erlangen, müssten sie beide Stichwahlen um die zwei Senatsmandate in Georgia gewinnen, um so ein 50:50 Verhältnis im Senat zu erreichen. Bei einer Pattsituation kann dann durch die Vizepräsidentin, Kamala Harris, entschieden werden. Da es sich um ein sehr unwahrscheinliches Szenario handelt, wird Joe Biden nicht nur für innenpolitische Reformen auf die Mitarbeit der Republikaner angewiesen sein, sondern auch bei der Bestellung von Kabinettsmitgliedern (Verteidigungs- oder Außenminister), Botschaftern und weiteren höheren Administrationsvertretern. Dies gilt auch für internationale Verträge, die durch den Senat ratifiziert werden müssen. Joe Bidens Erfahrung und Ruf der überparteilichen Zusammenarbeit könnten ihm von Nutzen sein. Auch ist es denkbar, dass sich gerade im Bereich der Außenpolitik Möglichkeiten zur überparteilichen Zusammenarbeit bieten. Es besteht allerdings breiter Konsens zwischen Republikanern und Demokraten mit Blick auf Deutschlands Handelsbilanz, die zu geringen Verteidigungsausgaben, China, die 5G-Debatte oder Nordstream 2. Für Deutschland werden diese kritischen Punkte also weiterhin bestehen bleiben.
Neben den Herausforderungen durch das „divided government“, d.h. Präsident und die Mehrheiten im Kongress gehören nicht derselben Partei an, muss Joe Bidens Außenpolitik einer stark polarisierten Bevölkerung vermittelbar sein. Konfliktlinien ziehen sich oftmals entlang der Parteizugehörigkeit und umfassen gesellschaftliche Problemlagen wie Rassismus, Fragen der Chancengleichheit und Vermögensverteilung. Auch muss er eine starke Politisierung von außenpolitischen Themen überwinden, beispielsweise die Rolle russischer Einflussnahme auf die amerikanische Demokratie. Zwar geht aus Umfragen hervor, dass die US-Bevölkerung einer aktiven Rolle der USA in der Welt, der Zusammenarbeit mit Partnern und Verbündeten sowie dem Freihandel grundsätzlich positiv gegenübersteht, doch beruhte Donalds Trump Erfolg in großen Teilen gerade auf einer America-First Außenpolitik, die das Narrativ eines internationalen Nullsummenspiels förderte und zur Erosion multilateraler Systeme führte. Die gesellschaftliche Unterstützung für kostenintensive außenpolitische Entscheidungen wird daher auch in Zukunft gering sein.
Zum Problem der stark polarisierten Gesellschaft kommt die prekäre wirtschaftliche Lage und ein ungewisser Pandemieverlauf hinzu. Die amerikanische Wirtschaft erlebte einen dramatischen Corona-bedingten Einbruch, gemessen am Bruttoinlandsprodukt einen Rückgang von mehr als 30% im 2. Quartal. Die Arbeitslosenquote stieg im April auf einen Höchstwert von nahezu 15%. Zwar hat sich die wirtschaftliche Lage in den letzten Wochen wieder etwas entspannt (Arbeitslosenquote: 7%, erwarteter BIP-Zuwachs um 33% im dritten Quartal), doch ist die weitere Entwicklung der Pandemie nach wie vor ein großer Unsicherheitsfaktor. Inzwischen melden die USA mehr als zehn Millionen Corona-Infektionen insgesamt, mehr als 230.000 Tote und täglich über 100.000 Neuinfektionen.
Joe Biden übernimmt also ein schweres Erbe, so dass sich die neue Administration in erster Linie auf die innenpolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen konzentrieren muss (Stichwort: „nation-building at home“). Zugleich ist eine Ressourcenverknappung mit Blick auf die Außenpolitik aufgrund der wirtschaftlichen Lage und der ohnehin hohen Staatsverschuldung wahrscheinlich. Die Frage der Verteilung von Lasten und Kosten dürfte also auch unter Biden vehement an Deutschland und Europa gestellt werden.
Darüber hinaus wird die Geopolitik die Außenpolitik des neuen Präsidenten beeinflussen. Einerseits hat die Trump-Administration durch ihre Politik Tatsachen geschaffen, z.B. Russlands starke Rolle im Mittleren Osten, die die Biden-Administration nicht ohne Weiteres rückgängig machen kann. Andererseits findet seit geraumer Zeit, gemessen an den ökonomischen, militärischen und technologischen Entwicklungen, eine Machtverschiebung zugunsten neue globaler Machtzentren statt, allen voran China und der indopazifische Raum. Aus diesem Grund hatte die Trump-Administration die Rückkehr der Großmachtrivalität in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie 2017 zum strategischen Leitmotiv erklärt. Das Pentagon sieht im Indo-Pazifik den wichtigsten militärischen Schauplatz für die kommenden Jahre und hat einen umfassenden militärischen Modernisierungsprozess begonnen, um die maritimen Fähigkeiten des amerikanischen Militärs mit Blick auf eine mögliche Konfrontation mit China auszubauen. Denn auch wenn die USA nach wie vor über das mächtigste Militär der Welt verfügen, ist die militärische Macht der USA begrenzt: Studien zufolge kann ein militärischer Erfolg Amerikas in einer Konfrontation mit China und/oder Russland nicht mehr vorausgesetzt werden. Auch unter Biden wird sich der strategische Fokus der USA weiterhin gen Asien und China verlagern, so dass eine Reduzierung ihres militärischen Engagements jenseits des Pazifiks absehbar ist. In diesem Kontext wird auch Biden versuchen, die „ewigen Kriege“ in Afghanistan und Irak schnell zu beenden. Stattdessen wird der Fokus mehr und mehr auf „light footprint“-Einsätzen zur Terrorismusbekämpfung liegen. Dies wird sich auf Amerikas Engagement in Europa und im Mittleren Osten auswirken, so dass Deutschland und Europa deutlich mehr Verantwortung für die Sicherheit Europas und dessen Umfeld werden übernehmen müssen. Die seit langem geführte Debatte über eine faire transatlantische Lastenverteilung (burden-sharing) wird vermutlich in eine Debatte über eine Lastenübernahme Europas (burden-shedding) übergehen. Mittel- bis langfristig könnte es auf eine regionale Arbeitsteilung innerhalb der NATO hinauslaufen, in der sich Europa vorwiegend auf die Herausforderung durch Russland sowie in Afrika und im Mittleren Osten konzentriert, während die USA den indopazifischen Raum abdecken.
Eine Biden-Administration wird sich außenpolitisch darum bemühen, die internationale Führungsrolle der USA und ihre Reputation als verlässlicher Partner wiederherzustellen. Anders als die Trump-Administration wird sie konzilianter auftreten und nicht länger ein transaktionales Verständnis von internationaler Politik vertreten. Es ist schnell mit einem klaren Bekenntnis zu multilateraler Zusammenarbeit und zur Bündnistreue innerhalb der NATO zu rechnen sowie mit einer Einladung zur Kooperation in wichtigen Problemfeldern (Klimawandel, Iran, China). Allerdings wird auch Präsident Biden den innen- und geopolitischen Zwängen unterworfen sein, was bereits an seinen wirtschafts-und handelspolitischen Positionen ersichtlich wird, die erkennbar den Schutz nationaler Interessen im Kontext der Globalisierung zum Ziel haben. Das Angebot zur Kooperation wird also einhergehen mit hohen Ansprüchen an Deutschland und Europa. Hierbei wird es wichtig sein, der Biden-Administration mit konkreten Plänen und Taten entgegenzukommen. Denn gemessen an Deutschlands offensichtlichen Verfehlungen (u.a. 2%-Ziel), kann die Revitalisierung der transatlantischen Beziehungen keine Einbahnstraße sein. Initiativen aus folgenden Bereichen könnten attraktiv für die Biden-Administration sein:
Während sich Barack Obama als ersten pazifischen Präsidenten bezeichnete, könnte Joe Biden ein letzter transatlantischer Präsident sein, geprägt durch seine langjährige Arbeit als Mitglied und Vorsitzender des Außenausschusses im U.S. Senat sowie des Unterausschusses für Europäische Angelegenheiten. Er begleitete viele für Europa wichtige Entwicklungen, die Überwindung des Ost-West-Konflikts, den Zerfall Jugoslawiens oder die NATO-Erweiterungsrunden. Biden gilt also zurecht als überzeugter, traditioneller Transatlantiker, dessen außenpolitisches Verständnis durch die Zusammenarbeit zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten geprägt wurde. Sein Wahlsieg eröffnet die vielleicht letzte Chance, die transatlantischen Beziehungen für die Herausforderungen der 21. Jahrhunderts erfolgreich aufzustellen. Diese Chance sollten wir nutzen.
Autorin: Andrea Rotter, HSS