Knapp sechs Monate nach dem ersten Treffen der britisch-deutschen „High-Level Study Group on the Future of Defence of Europe“ lud die Hanns-Seidel-Stiftung in Kooperation mit dem Internationalen Institut für Strategische Studien (IISS) zum zweiten Mal hochrangige Vertreter aus Politik, Medien, Ministerien und Think Tanks unweit des Starnberger Sees ein, um gemeinsame Lösungen für den Erhalt der europäischen Verteidigungsfähigkeiten zu erarbeiten. Unter den Gästen befanden sich unter anderen General Heinrich Brauß, ehemals Beigeordneter Generalsekretär der NATO für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung im Internationalen Stab der NATO, der frühere britische Verteidigungsminister Michael Fallon sowie die Bundestagsabgeordneten Dr. Peter Ramsauer und Christian Schmid, Bundesminister a.D.
Ausgangspunkt der Diskussionen war eine kurze Analyse von Ereignissen und Entwicklungen, die das strategische Umfeld Europas seit dem ersten Treffen im März 2019 beeinflusst haben: eine Verschärfung der Sicherheitslage für Europa, z.B. durch das Ende des INF-Vertrags (Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme) im August 2019, stärkere Risse in der euro-atlantischen Einigkeit gegenüber Russland, Amerikas strategische Schwerpunktpunktverlagerung von Europa auf den indopazifischen Raum sowie eine neue EU-Kommission nach den Europawahlen im Mai 2019, deren Auswirkung auf die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU erst noch abzuwarten ist.
Basierend auf der diffusen Bedrohungslage fokussierten sich die Expertinnen und Experten auf folgende Punkte: die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit gegenüber Russland, den Aufstieg Chinas, Antworten bei hybriden Bedrohungen sowie den Umgang mit technologischen Fortschritten, welche die Art der zukünftigen Konfliktaustragung beeinflussen werden.
Mit Blick auf die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten gegenüber Russland betonten die Fachleute die Notwendigkeit, den noch weitgehend vorherrschenden Konsens im transatlantischen Gefüge zu erhalten und weiterhin auf eine gemeinsame Haltung im Umgang mit Moskau hinzuarbeiten. Darüber hinaus rieten sie dazu, europäische Initiativen, die auf EU-Ebene mit dem Ziel größerer „strategischer Autonomie“ durchgeführt werden, besser in das transatlantische Bündnis einzubinden. Auch die Kooperation zwischen EU und NATO sollte ausgebaut bzw. gegenwärtige Blockaden zwischen der Türkei und Zypern abgebaut werden. Darüber hinaus müssten die Kapazitäten zur Abschreckung, insbesondere die verstärkte Präsenz von NATO-Truppen in osteuropäischen Mitgliedstaaten, die sog. Enhanced Forward Presence, kontinuierlich überprüft werden. Handlungsbedarf bestehe besonders darin, die Einsatzbereitschafts- und Verstärkungsfähigkeiten (readiness & reinforcement) auszubauen.
Die Teilnehmenden konstatierten ein gestiegenes Bewusstsein in den USA und Europa für mögliche Herausforderungen durch den Aufstieg der Volksrepublik China. Dieser zeigt sich bereits in militärischer, wirtschaftlicher, aber auch kulturpolitischer Hinsicht. Es ist wichtig, eine geschlossene euro-atlantische Haltung zu entwickeln. Aus europäischer Perspektive müssen die Konsequenzen durch die stärkere Fokussierung Amerikas auf den Indo-Pazifik für Europa und die NATO wahrgenommen werden. Es sei unumgänglich, dass die USA künftig den europäischen Partnern mehr Verantwortung für die europäische Sicherheit abverlangen werden und Europa dementsprechend Vorsorge treffen müsse, um weiterhin als verlässlicher Partner Washingtons anerkannt zu werden.
Neben militärischen Aspekten der Verteidigung waren vor allem Strategien gegen hybride Bedrohungen Thema des Expertenaustausches. Um die eigene Verwundbarkeit gegen sog. gray zone tactics, also Maßnahmen unterhalb der Schwelle eines militärischen Konfliktes wie Cyberangriffe oder Desinformationskampagnen zu verringern, sollte die gesamtstaatliche Resilienz (Widerstands- bzw. Anpassungsfähigkeit) mit allen relevanten Akteuren erhöht werden. Dazu gehört die intensive Zusammenarbeit zwischen Politik, Privatwirtschaft, Medien und Zivilgesellschaft.
Eng verknüpft mit hybriden Bedrohungen wurde der Umgang mit technologischen Fortschritten im Cyber- und Weltraum sowie bei autonomen Waffensystemen oder Künstlicher Intelligenz erörtert, weil sie die künftige Kriegsführung maßgeblich verändern werden. Hier waren die Expertinnen und Experten sich einig, dass man erst am Anfang stehe, deren Folgen zu begreifen – von einem gemeinsamen Verständnis bzw. einer koordinierten Strategie sei man weit entfernt. Gemessen an den Entwicklungen in den USA und in China sei es gerade für Europa wichtig, Forschungs- und Investitionslücken zu schließen, wenn es nicht von den „Giganten“ in diesem Bereich, den USA und China, abgehängt werden wolle.
Autorin: Andrea Rotter