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So haben Europas Bürger abgestimmt
Die große EU-Wahlanalyse

Die Wahlkämpfe zur Europawahl werden national geführt. Welche Themen bestimmten die Debatten, was erwarten die Wähler, welche Trends haben sich gezeigt? Lesen Sie in unserer großen Wahlanalyse Berichte unserer Experten aus ganz Europa.

Die Schlachten sind geschlagen, der Pulverdampf hat sich verzogen: die Stimmen der Europawahlen sind ausgezählt, die 751 Sitze für die neue Legislaturperiode 2019 – 2024 vergeben. Auch wenn es in einigen Ländern zu bedeutenden Veränderungen in der Parteienlandschaft kam, lassen sich eindeutige und europaweit gültige Trends aus den Einzelergebnissen der Mitgliedsstaaten kaum herauslesen. Die Wahlen zum Europäischen Parlament sind letztlich immer noch 28 Einzelwahlen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Themen. Das europaweit gestiegene Interesse an der Wahl sollte man nicht gleichsetzen mit einer gestiegenen „europäischen Öffentlichkeit“ oder einem Mehr an „europäischem Bewusstsein“. Vielmehr ist den Bürgerinnen und Bürgern der EU klarer geworden, dass ihre Meinung (aggregiert im Wahlergebnis ihres jeweiligen Landes) in Europa und auch für die Europapolitik ihres Landes Bedeutung hat.

Wir wollen Ihnen, lieber Leser, die Möglichkeit geben, sich über den Ausgang, Kontext und Konsequenzen aus den Europawahlen in verschiedenen Staaten der EU ein detaillierteres Bild zu machen. Dazu haben wir Berichte zu ausgewählten Ländern erstellt, die Sie durch Anklicken des jeweiligen Landes auswählen und lesen können.

Europäisches Parlament

Es waren in vielerlei Hinsicht besondere Europa-Wahlen: Zum ersten Mal musste ein Mitgliedsland teilnehmen, das eigentlich per Volksentscheid beschlossen hatte die Europäische Union zu verlassen. In Großbritannien fühlten sich die Bürgerinnen und Bürger also weniger dazu aufgerufen, die Zukunft der Europäischen Union mitzubestimmen, als darüber zu befinden, welches Zeugnis sie der aktuellen politischen Klasse in London und deren „handling“ oder besser „Nicht-handling“ des Brexit ausstellen sollten.

Ebenfalls zum ersten Mal seit Einführung der Direktwahlen zum Parlament 1979 ist die Wahlbeteiligung europaweit nicht gesunken, sondern gestiegen, von 42,61 auf 50,97 Prozent. Die Beteiligungen lag zwischen knapp 89 Prozent (Belgien, Land mit Wahlpflicht) und etwas weniger als 23 Prozent (Slowakei, keine Wahlpflicht). Im Schnitt machten in den westlichen Mitgliedsstaaten mehr Bürgerinnen und Bürger von ihrem Wahlrecht Gebrauch als in den osteuropäischen Ländern.

Ein weiteres Novum ist das Ende der Dominanz der Großen Koalition der Christ- und Sozialdemokraten im Parlament. Beide großen Blöcke (EVP minus 5,1 und S&D minus 4,9 Prozent) gelten als die Hauptverlierer dieser Wahl und stellen zum ersten Mal in der Geschichte des EP nicht mehr die Mehrheit der Abgeordneten. Das schwache Ergebnis der Christ- und Sozialdemokraten rührt aber nicht in erster Linie von einer vermeintlich schwachen europapolitischen Performance, sondern ist vielmehr Ausdruck einer Tendenz, die sich in den nationalen Politiken einiger Länder – darunter auch Deutschland oder Frankreich –schon seit einiger Zeit manifestiert.

Allerdings gibt es Länder, die sich dem europaweiten Trend entziehen: In Spanien siegte die traditionelle sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) und stellt im neuen Parlament die größte Landesgruppe der auf 153 Abgeordnete geschrumpften S&D-Fraktion. Auch in den Niederlanden gelang den Sozialdemokraten ein überraschendes come back, vermutlich dank des populären S&D-Spitzenkandidaten Frans Timmermans. Das EVP-Mitglied Nea Dimokratia siegte hingegen überzeugend in Griechenland, wo das Land nun auf vorgezogene Neuwahlen zusteuert. Auch in Bulgarien konnte sich die EVP durchsetzen. Ministerpräsident Bojko Borrisow und seine Partei GERB gingen gestärkt aus dem Urnengang hervor. In Kroatien konnte sich mit der Regierungspartei HDZ ebenfalls ein EVP-Mitglied behaupten. Südosteuropa ist damit eine der wenigen Regionen, wo die Europäische Volkspartei noch überwiegend gut reüssieren konnte.

Der Streit innerhalb der EVP-Familie um und mit der Partei des Premierministers von Ungarn, Viktor Orbán, hat zumindest diesem nicht geschadet. Der FIDESZ fuhr erwartungsgemäß einen überzeugenden Wahlsieg ein. Ob die Partei in der EVP verbleibt ist noch nicht entscheiden. Aus Budapest kamen jüngst Signale, wonach Fidesz Mitglied der EVP-Familie bleiben wolle. Eventuell wird Orbán diese Entscheidung aber letztlich von den Verhandlungen über neue Allianzen und Fraktionen im Europa-Parlament abhängig machen. Die Kandidatur Manfred Webers will er jedenfalls – egal ob innerhalb oder außerhalb der EVP – nicht unterstützen.

©Europäisches Parlament

Als Sieger der Europawahlen dürfen sich die liberalen Parteien fühlen. ALDE und seine Verbündeten (in erster Linie Frankreichs Präsident Macron) konnten die Zahl ihrer Sitze signifikant steigern und stellen mit 105 Abgeordneten die drittstärkste Fraktion. In Luxemburg wurde die liberale Demokratische Partei (DP) zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg stärkste politische Kraft. Auch in Rumänien (Interview mit Abgeordneten) konnten die liberalen Kräfte um das Parteienbündnis USR-Plus stark zulegen. Gemeinsam mit dem bürgerlich-konservativen Wahlsieger PNL (EVP-Mitglied) haben sie nun die Aussicht, die bleiernen Jahre der Dominanz der Sozialisten in der Regierung in Bukarest zu beenden. Auch in Tschechien siegte eine ALDE-Partei, wenn auch mit keinem überragenden Ergebnis. Premierminister Babiš kämpft aktuell mit einem Skandal über den Missbrauch europäischer Fördergelder, der seine ANO-Partei Stimmen gekostet haben dürfte.

Auch die europäischen Grünen werden stärker im künftigen Parlamentvertreten sein. Sie profitierten in erster Linie von dem sehr guten Abschneiden der grünen Parteien in Deutschland, Frankreich, Belgien und Großbritannien. Ein europaweiter Trend der Wähler hin zu grünen Parteien kann nicht pauschal festgestellt werden.

Ebenso wenig kann man pauschal von einem Aufschwung rechtspopulistischer oder rechtsextremer Parteien sprechen. Noch immer gibt es im Europa-Parlament eine große Mehrheit des pro-europäischen Lagers, wenn auch in verschiedenen Nuancen und Abstufungen. Allein EVP, S&D, ALDE und Grüne/EFA bringen es auf mehr als 500 Parlamentarier. Unterschiede prägen auch die Parteien des rechten und rechtspopulistischen Spektrums in Europa. Bis auf Frankreich und Italien gelang diesen Parteien kein bemerkenswerter Erfolg. Es wird für die rechts der EVP stehenden Parteien sehr schwierig werden, sich programmatisch und ideologisch zu funktionierenden Fraktionen und Bündnissen zusammenzuraufen. Das Spektrum reicht von der euroskeptischen, aber zutiefst bürgerlichen ODS aus Tschechien über die erzkonservative (aber nicht durchgehend europafeindliche) PiS in Polen, die national ausgerichtete spanische Vox-Partei, über Parteien wie die populistische italienische Lega, die FPÖ, die AfD bis zu klar nationalistischen Parteien wie Le Pens Rassemblement National und anderen.

So ruft auch die italienische Lega – der Wahlsieger der Europawahlen in Italien – nicht mehr per se nach einem Ausstieg des Landes aus der Union, sondern nach einer tiefgreifenden Reform. Diese „Abschwächung der Europakritik“ ist wahrscheinlich ein innerparteiliches Zugeständnis an eine nicht zu unterschätzende Gruppe von Lega-Anhängern und Mandatsträgern, insbesondere im Norden Italiens, die von den Vorteilen eines geeinten Europas (insbesondere einer Wirtschaftsunion) durchaus überzeugt sind.

Bei den Verhandlungen über die zukünftige personelle Aufstellung der Kommission, der Führung des Parlaments und bei der Vergabe weiterer wichtiger Unionsämter werden die Rechtspopulisten – wenn sie nicht wie in Italien an der Regierung beteiligt sind – kaum Einfluss haben.

Und diese Verhandlungen beginnen jetzt. Wie immer gilt es, ein Gesamtpaket zu schnüren, in dem die unterschiedlichsten Interessen berücksichtigt werden müssen. Natürlich wird die neue Stimmverteilung im Europäischen Parlament eine große Rolle spielen. Doch streng nach den Verträgen zur Europäischen Union liegt das Vorschlagsrecht für den neuen EU-Kommissionspräsidenten beim Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs, das System des „Spitzenkandidaten“ findet sich nicht in den Verträgen, wenngleich es von vielen Fraktionen im EU-Parlament als demokratische Notwendigkeit erachtet wird. Die ALDE-Gruppierung um Frankreichs Präsident Macron und den niederländischen Regierungschef Rutte stellt das Modell jedoch dezidiert in Frage.

Es geht aber nicht nur um den Kommissionspräsidenten. Das „Gesamtpaket“ umfasst viel mehr: es gilt einen Präsidenten des Europäischen Rates zu küren, ebenso den Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Und der Posten des EZB-Präsidenten wird bestimmt ebenfalls in die Verhandlungsmasse einbezogen, ebenso wie weitere bedeutende Ämter im Institutionengefüge der Union. Die Mitgliedsländer müssen innerhalb ihrer Regierungen die einzelnen Kommissare bestimmen, das EU-Parlament muss einen Präsidenten wählen und unabhängig von der politischen Farbe der einzelnen Regierungen werden die losen Allianzen und Bündnisse innerhalb Europas (Norden gegen Süden bei Finanzfragen / Westen gegen Osten bei Migrationsthemen, etc.) ebenfalls zu berücksichtigen sein.

Kurzum: Die Schlacht um die Wählergunst ist zwar beendet, doch das Tauziehen und die Verhandlungen um die personelle Besetzung wichtiger europäischer Institutionen ist noch lange nicht vorbei.

Autor: Henning Senger, HSS, stv. Leiter des Instituts für Europäischen und Transatlantischen Dialog

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