Während seiner Europa-Reise im Juni hatte US-Präsident Joe Biden Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Washington eingeladen. Es war ein Arbeitsbesuch, kein Abschiedsbesuch und es sollten Themen der transatlantischen Partnerschaft dominieren.
Das Programm am 15. Juli beinhaltete ein Frühstück mit der Vize-Präsidentin Kamala Harris, einen Gesprächskreis mit US-Businessvertretern zur Förderung der Wirtschafts-, Handels- und Innovationsbeziehungen und die Verleihung eines Ehrendoktortitels durch die Johns-Hopkins-Universität und durch das American Institute for Contemporary German Studies.
Im Weißen Haus traf Angela Merkel zum Vier-Augen-Gespräch mit Joe Biden zusammen. Die Runde erweiterte sich dann um Außenminister Tony Blinken, Sicherheitsberater Jake Sullivan und um ausgewählte Delegationsmitglieder der Kanzlerin. Nach der Pressekonferenz bildete ein Abendessen mit dem US-Präsidenten, der Vize-Präsidentin, den Ehepartnern und einigen Kongressabgeordneten den Abschluss des Programms.
Die Einladung an Angela Merkel zu einem Arbeitsbesuch in Washington war eine große symbolische Geste, ein Zeichen der besonderen Bedeutung, die die Biden-Administration den deutsch-amerikanischen Beziehungen zumisst. Deutschland ist die führende Macht in Europa und, wie es Außenminister Tony Blinken kürzlich in Berlin sagte: „Die Vereinigten Staaten haben keinen besseren Partner und keinen besseren Freund in der Welt als Deutschland“.
Mit dieser Bereitschaft zu einer neuen transatlantischen Partnerschaft ist aber auch eine hohe Erwartungshaltung verbunden. Washington fordert von Berlin mehr internationale Verantwortung, höhere Verteidigungsausgaben und vor allem ein Ende irritierender und zu stark auf wirtschaftliche Interessen ausgerichteter Beziehungen zu China und Russland. Unter Freunden könne man auch einmal verschiedener Meinung sein, so Joe Biden auf der Pressekonferenz mit Angela Merkel. An Nord Stream 2 oder dem EU-Investitionsabkommen mit China werde die transatlantische Freundschaft nicht scheitern. Aber Berlin dürfe nicht die US-Interessen unterlaufen, indem es beschwichtigende Sonderbeziehungen zu Beijing und Moskau verfolge. Vielmehr möge sich Berlin der Sichtweise Washingtons anschließen: China ist die größte geopolitische Herausforderung im 21. Jahrhundert. Die freiheitlichen Gesellschaften des Westens werden durch autoritäre Regime herausgefordert. Durch repressive Innenpolitik und aggressive Außenpolitik verstoßen China und Russland vehement gegen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit und hintertreiben eine regelbasierte internationale Ordnung.
Der Dissens zu Nord Stream 2 ist nicht vom Tisch. Merkel musste akzeptieren, dass die Linie der Bundesregierung, es handele sich um ein rein kommerzielles Projekt zwischen Unternehmen, nicht haltbar ist. Vielmehr sind damit auch politische und sicherheitspolitische Implikationen verbunden, die Angela Merkel jetzt anerkannte. Mit ihrer Aussage, dass die Ukraine ein Transitland bleibe und dass man die Risikoanalysen und Sicherheitsperzeptionen der mittelosteuropäischen Ländern in der deutschen Russland-Politik berücksichtigen werde, kam Angela Merkel der Erwartungshaltung Washingtons entgegen und nahm damit auch die neue Bundesregierung in die Pflicht.
Auch in der China-Politik ist eine transatlantische Annäherung spürbar, auch wenn Berlin spürbar das Aufkommen eines neuen Kalten Krieges zwischen dem Westen und China verhindern will. Dass nach den von China verhängten Sanktionen gegen europäische Politiker die Ratifizierung des Investitionsabkommens zwischen der EU und China vorerst ausgeschlossen ist und China jetzt auch in Berlin und Brüssel zusehends als strategischer Rivale und nicht mehr als strategischer Partner eingestuft wird, wird in Washington positiv wahrgenommen. Washington sieht das Verhältnis nicht als Kampf um die Weltherrschaft, sondern als systemische Auseinandersetzung zwischen freien Gesellschaften und autoritären Mächten. Mit der Washingtoner Erklärung haben Angela Merkel und Joe Biden zum Ausdruck gebracht, dass sie zu Grundfragen der demokratischen Verfasstheit von Staaten gleich denken und nicht zuletzt die technologischen Herausforderungen der Zukunft gemeinsam angehen werden.
Joe Biden war zweifellos an einer Reparatur der beschädigten deutsch-amerikanischen Beziehungen interessiert. Dies ist ihm gelungen, obgleich ein wesentlicher Wunsch Berlins unerfüllt blieb: Das Einreiseverbot aus Schengen-Ländern bleibt in Kraft. Mit der zwischen der EU und den USA ins Leben gerufenen Arbeitsgruppe zur Bewertung des Einreiseverbots aus epidemiologischer Sicht sind nur wenig konkrete Hoffnungen verbunden, und schon gar keine raschen. Hinter vorgehaltener Hand hört man in Washington, dass die Biden-Administration einen Zusammenhang zwischen dem Einreiseverbot aus dem Schengen-Raum und den Zurückweisungen von Flüchtlingen an der Grenze zu Mexiko aus gesundheitlichen Gründen sieht. Wenn man also Geimpften und Getesteten aus Europa die Einreise nach Amerika gewährt, könnten Flüchtlinge ihre Einreise aus Mexiko einklagen. Bislang wird ihnen diese mit Verweis auf mögliche COVID-Infektionen pauschal verwehrt. Eine Abkehr von dieser noch aus der Trump-Zeit stammenden Praxis könnte die Flüchtlingskrise an der südlichen Grenze verschärfen.
Angela Merkels Washington-Reise erinnerte an Vergangenes, analysierte Gegenwärtiges und blickte in die Zukunft. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass Joe Biden jetzt der vierte US-Präsident ist, mit dem es die Kanzlerin zu tun hat, nach George W. Bush, Barack Obama und Donald Trump jetzt also mit Joe Biden. Diese Liste der US-Präsidenten zeigt, wie lange die Kanzlerin schon im Amt ist.
Die Kanzlerin dankte den Amerikanern für ihr beharrliches Eintreten für Freiheit und Demokratie in Europa und für ihre Unterstützung bei der Wiedervereinigung Deutschlands. Zugleich betonte sie die Interessenkongruenz in den zentralen Fragen der internationalen Politik heute, sei es bei globalen Impfungen gegen die COVID-Pandemie, im Kampf gegen den Klimawandel, beim multilateralen Engagement und bei der Stärkung internationaler Organisationen, bei der Festlegung von globalen Mindestsätzen der Unternehmensbesteuerung oder bei globalen Infrastrukturinvestitionen im G7-Rahmen, um dem chinesischen Seidenstraßen-Projekt etwas entgegenzusetzen.
Joe Biden und Angela Merkel haben das Fundament der transatlantischen Beziehungen gestärkt. Doch Washington weiß, dass die Tage von Angela Merkel im Kanzleramt gezählt sind. Selten blickte das politische Amerika so gespannt auf eine Bundestagswahl und deren Konsequenzen. Merkels Nachfolger ist in Washington ein unbeschriebenes Blatt. Ein Zurück zu transatlantischer Romantik und zu einem Status-quo-ante-Trump wird es nicht geben. Amerika sieht sich nicht mehr als Weltpolizist, der global für Frieden und Stabilität verantwortlich ist. Das Konzept von Partnership in Leadership, erstmals erwähnt von George H.W. Bush in seiner berühmten Mainzer Rede 1989, wird jetzt von Joe Biden aktualisiert. Für eine erfolgreiche Aktualisierung und Umsetzung braucht es Antworten aus Berlin. Die neue Bundesregierung wird transatlantisch gefordert sein, aber sie kann auf einem robusten Fundament aufbauen.
Autor: Christian Forstner, HSS, Washington