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Portraits jüdischer Persönlichkeiten
Gesichter unseres Landes: Rabbi Juda der Fromme

Wir feiern 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland und Bayern und würdigen den essentiellen Beitrag, den jüdische Persönlichkeiten für die Geschichte, Kultur, Wissenschaft und Wesensart unseres Landes geleistet haben. Heute im Portrait: Rabbi Juda der Fromme – Jüdische Mystik aus Bayern.

Rabbi Juda der Fromme (ca. 1140/50 – 22. Februar 1217) war ein jüdischer Gelehrter, der sich der Ethik, Philosophie und Mystik verschrieben hatte und mit seinem Werk, Sefer Chassidim („Das Buch der Frommen“), das Leben der deutschen Juden über Jahrhunderte hinaus geprägt hat.

Herkunft und Familie

Rabbi Juda ben Samuel, genannt der Fromme, wurde vermutlich zwischen 1140 und 1150 in Speyer geboren. Er entstammte den Kalonymiden, einer der ältesten jüdischen Familien, die sich im deutschen Sprachraum durch historische Quellen greifen lassen. Ein Vorfahre mit dem Namen Kalonymos (griechisch „guter Name“, evtl. Übersetzung des hebräischen „Schem Tov“) war vermutlich im 9. Jahrhundert aus dem italienischen Lucca in das deutsche Rheingebiet um Worms, Speyer und Mainz gezogen und hatte sich dort mit seiner Familie niedergelassen.
Im Mittelalter siedelten in dieser Gegend viele jüdische Familien und übten von hier aus großen Einfluss auf die weitere Entwicklung des deutschen Judentums in Bereichen wie Bibelexegese und Liturgie aus. Hier entwickelte sich auch eine neuartige ethisch-mystische Bewegung, die „Chasside Aschkenas“ („die Frommen Deutschlands“) genannt wurde. Durch seine Geburt in Speyer befand sich Rabbi Juda damit im Zentrum der deutsch-jüdischen Kultur und hier verbrachte er auch die ersten Jahrzehnte seines Lebens. Sein Vater Samuel ben Kalonymos, ebenfalls mit dem Beinamen „der Fromme“, gehörte zur Führungselite und war als Talmudgelehrter und liturgischer Dichter bekannt.

Die Regensburger Zeit

Es ist bis heute nicht abschließend geklärt, warum Rabbi Juda Speyer verließ und sich in Regensburg ansiedelte. Eine Theorie lautet, dass die christlichen Bürger Speyers den Juden in ihrer Stadt vorwarfen, einen Ritualmord begangen zu haben. Seit dem Mittelalter und bis in unsere Zeit führt diese Verleumdung, dass Juden das Blut christlicher Kinder für ihre rituellen Zwecke benötigten, zu schweren Verfolgungen und Ermordungen jüdischer Gemeindemitglieder, die sich nicht durch Flucht in Sicherheit bringen konnten. Tatsächlich ist Juden schon in der Bibel der Genuss von Blut verboten (vgl. Leviticus 17:10-14).
Es ist denkbar, dass Rabbi Juda unter solchen Umständen nach Regensburg kam und dort die Leitung der jüdischen Gemeinde übernahm. Die Regensburger Gemeinde war im Mittelalter eine der größten und bedeutendsten in Süddeutschland. Durch den Zuzug Rabbi Judas und seiner Anhänger wurde die Stadt nun auch ein wichtiges spirituelles Zentrum für das deutsche Judentum. Er stand hier einer Jeschiwa, einer traditionellen jüdischen Schule, vor und zog viele Schüler von außerhalb an. Rabbi Juda starb in Regensburg im Jahre 1217.

Titelseite von Sefer Chassidim („Das Buch der Frommen“) von Rabbi Juda dem Frommen, Bologna 1538.

Titelseite von Sefer Chassidim („Das Buch der Frommen“) von Rabbi Juda dem Frommen, Bologna 1538.

Titelseite von Sefer Chassidim, Bologna 1538. Mit freundlicher Genehmigung der Bayerischen Staatsbibliothek.

Das moralische Verhalten der Chassidim

Ein Zeitgenosse Rabbi Judas pries ihn mit den Worten, „hätte Juda der Chasid in den Zeiten der Propheten gelebt, wäre er ein Prophet gewesen.“ Der Ruhm Rabbi Judas, der bis heute anhält, rührt von einer Textsammlung, die theologische und ethische Lehren der „Chasside Aschkenas“ in narrativer Form überliefert: „Das Buch der Frommen“ (Sefer Chassidim). Die jüdische Tradition schreibt ihm dieses Werk zu, das hauptsächlich auf seine Redaktion zurückgeht.
Nach dem Selbstverständnis der Chassidim zeichneten sie sich durch eine Frömmigkeit aus, welche die Hingabe zu Gott auf radikale Weise zuspitzte und sich vor allem in den Bereichen Askese, Moral und Mystik artikulierte. Ziel des Sefer Chassidim ist es, dem Leser aufzuzeigen, wie er die strengen moralischen Maßstäbe, welche die Chassidim sich freiwillig auferlegten, im Alltag praktisch umsetzen kann – durch Vorsicht bei Situationen, die ihn einer Versuchung aussetzen könnten, aber vor allem, wie er sich darin bewähren kann. Hierzu schildert Sefer Chassidim ausführlich und realistisch Beispiele aus der mittelalterlichen Lebenswelt. So erfährt man unter vielen anderen Fällen, wie man sich zu kleiden hat, wie man zu beten hat und auch wie man sich unter Nichtjuden verhält. Genauso erfährt man aber auch, dass der Verdienst und der Ehrenplatz in der jenseitigen Welt die Leiden und den Verzicht in dieser Welt aufwiegen werden. Eine wichtige Rolle kommt im Sefer Chassidim der Buße zu. Die Chassidim bestimmten, dass die Schwere der Bestrafung der Größe der Sünde zu entsprechen habe. In diesem und anderen Punkten lassen sich eventuell die Einflüsse christlicher Bußpraxis ablesen, die ihre Spuren im moralischen Empfinden der deutschen Juden hinterließ.

Die Welt- und Gottesvorstellung im Sefer Chassidim

Die Bedeutung des Sefer Chassidim lässt sich am deutlichsten im Kontrast zu anderen Denkschulen aus anderen Teilen der jüdischen Welt ersehen. Die jüdische Theologie des Mittelalters wurde zunächst stark von der philosophischen Strömung aus dem islamischen Raum beeinflusst. Der bekannteste Vertreter dieser Strömung war der jüdische Philosoph Moses Maimonides (ca. 1138, Cordoba – 13. Dezember 1204, Fustat [Alt-Kairo]), der etwa zeitgleich mit Rabbi Juda wirkte. Maimonides deutete die anthropomorphen Beschreibungen Gottes in der Bibel allegorisch, um das Judentum mit der aristotelischen Philosophie verbinden zu können. Den entgegengesetzten Weg gingen Rabbi Juda und die „Chasside Aschkenas“, indem sie an die Traditionen der frühen jüdischen Mystik anknüpften und diese mit ihren Ideen von Gottes Unerkennbarkeit, aber trotzdem allgegenwärtigen Durchdringung der Welt weiterentwickelten. In wunderbaren Ereignissen erkannten sie Zeichen göttlichen Wirkens. Zu ihrem Weltverständnis passten die volkstümlichen Vorstellungen der mittelalterlichen Umwelt, die gängigen Sagen, Legenden und Geschichten von dämonischen Gestalten, sowie Zauberei und Magie.

Rabbi Judas Werk hatte für Jahrhunderte großen Einfluss auf das Leben der deutschen Juden. Sein berühmtester Schüler, Rabbi Elasar aus Worms (gestorben 1238), übernahm seine Lehren zur Gebetsmystik und verfasste das wichtigste mystische Kompendium der „Chasside Aschkenas“, Sode Rasaja („Geheimnisse der Geheimnisse“). Das Sefer Chassidim fand große Verbreitung, wurde 1538 in Parma gedruckt und prägte auch das jiddische Mayse-Buch (Basel 1602). Für Historiker des Mittelalters ist Rabbi Judas Werk eine wichtige Quelle des jüdischen Alltagslebens im Mittelalter.

Autor: Maximilian de Molière, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Judaistik/Jüdische Studien der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in einem DFG-Projekt über den italienischen Rabbiner Moses Zacuto und hat sich an der Ludwig-Maximilians-Universität München über den christlichen Hebraisten Johann Albrecht Widmanstetter promoviert.

Scholem, Gershom. Die Jüdische Mystik in Ihren Hauptströmungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980, 87-127.

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Thomas Klotz
Leiter