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Soziale Infrastrukturen
Eine gute Versorgung sollte keine Frage des Wohnortes sein

Autor: Silke Franke

Kindertagesstätten, Alten- und Pflegeheime, Krankenhäuser, Beratungsstellen und Vereine – wie können all diese Einrichtungen in der Fläche vorgehalten werden, also auch außerhalb der Ballungszentren? Schließlich sind das nicht nur Infrastrukturen, die für die Organisation unseres Lebens wichtig sind, sondern auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Viele Gemeinden kennen das: Für zuzugswillige Familien ist nicht nur wichtig, dass sie bezahlbaren Wohnraum in erreichbarer Nähe zum Arbeitsplatz haben. Sie fragen auch gezielt nach den Betreuungsangeboten für Kinder und Angehörige. 

Eltern mit Kind in der Mitte. "Engelchen flieg!"

Gerade für junge Familien ist es wichtig, dass es auf dem Land ausreichend soziale Infrastruktur gibt: Kindergärten, Horte, Schulen, Ärzte ...

Pexels; CC0; Pixabay

Wohnortnahe Versorgung vom Kinderhort bis zum Altenheim?

Eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung berührt auch die Frage gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land. Die vom Bayerischen Landtag eingerichtete Enquete-Kommission stand vor der schwierigen Aufgabe zu beschreiben, was unter „räumlicher Gleichwertigkeit“ denn zu verstehen sei. Prof. Dr. Holger Magel, Präsident der Bayerischen Akademie Ländlicher Raum und Mitglied der Kommission, erläuterte im Rahmen des Sommerkolloquiums mit der Hanns-Seidel-Stiftung das Gerechtigkeitsmodell, auf das man sich als Annäherung geeinigt hat: „Wir unterscheiden vier Gerechtigkeitsdimensionen, und zwar eine Verteilungs-, Verfahrens-, Chancen- und Generationengerechtigkeit“.

Es gehe nämlich nicht nur um die Sicherstellung einer Grundversorgung, sondern auch um Partizipationsmöglichkeiten sowie um gute Entfaltungsmöglichkeiten für jeden Einzelnen und um die Berücksichtigung der Bedürfnisse der nachfolgenden Generationen. Die Experten der Kommission haben auch versucht, messbare Kriterien abzuleiten, die sie in dem Schlussbericht als „Diskussionsgrundlage für die fachliche Weiterentwicklung“ vorstellen. Magel: „Lesen Sie die den Schlussbericht, wir wollen wissen, was Sie darüber denken“.

Vier Gerechtigkeitsdimensionen der Enquete-Kommission

Der Freistaat „fördert und sichert gleichwertige Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen in ganz Bayern“ – dieses Staatsziel wurde per Volksentscheid in die Bayerische Verfassung geschrieben (Art 3 Abs 2). Im Jahr 2014 hat der Landtag die Enquete-Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Bayern“ eingerichtet. In ihrem Schlussbericht vom 30.01.2018 hat sich als Annäherung an eine Definition von „Gleichwertigkeit“ vier Dimensionen der Gerechtigkeit skizziert (eigene Zusammenfassung) .

bezieht sich in erster Linie auf materiellen Grundbedürfnisse. Dabei geht es um den Zugang (Erreichbarkeit/ Bezahlbarkeit) zu Gütern, Ressourcen und Infrastrukturen. Diese müssen sowohl zwischen den Regionen als auch innerhalb der Gesellschaft gerecht und zu angemessenen Kosten verteilt sein. Konkrete Handlungsfelder und Indikatoren sind z.B. die öffentliche Ver-  und Entsorgung, Arbeitsplätze, Wohnungen, Bildungs- und Betreuungsangebote, Gesundheitsversorgung, Kultur- und Freizeiteinrichtungen etc. Eine Verteilungsgerechtigkeit ließe sich also z.B. über die Zahl der zur Verfügung stehenden Betreuungsplätze pro Kind einer entsprechenden Altersgruppe messen, über die Erreichbarkeit des nächsten Hausarztes oder z.B. über die durchschnittliche Wartezeit auf einen stationären Pflegeplatz.

ist für den demokratischen Rechtsstaat elementar. Die Basis bilden dabei die Gleichheit aller Personen vor dem Gesetz und die Rechte des Einzelnen. Ein weiterer Grundgedanke ist, dass das gesellschaftliche System dafür sorgen muss, dass diese Rechte gleich verteilt sind und ein faires Verfahren die Verteilung und Zugänge zu Gütern, Infrastrukturen und Chancen regelt. Gerechtigkeitsvorstellung sind also das Ergebnis „sozialer Lernprozesse“, in denen der bestmögliche Umgang mit Verteilungskonflikten gesucht wird. Konkrete Handlungsfelder liegen daher in den Verfahren zu Bürgerbeteiligung bei Planungs- und Entwicklungsvorhaben.

berücksichtigt die individuellen Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentwicklung. Entscheidend ist dabei, dass der Einzelne entsprechend seinen Fähigkeiten Entfaltungsmöglichkeiten sieht und wahrnehmen kann. Es geht hier also um die Gewährleistung der nötigen Rahmenbedingungen. Konkrete Handlungsfelder und Indikatoren liegen hier z.B. in den Bereichen Bildung, Arbeitsmarkt, Gleichstellung, Demographie, Mobilität. 

erweitert die Dimensionen um die zeitliche Perspektive. Die Gerechtigkeit zwischen Generationen entspricht außerdem dem Richtziel der Nachhaltigkeit. Es gilt, dauerhaft die ökonomische, soziale und ökologische Krisenanfälligkeit („Resilienz“) und damit die Verletzlichkeit sowohl der Teilräume als auch des Gesamtraums zu reduzieren.

Älterer Arzt misst den Blutdruck eines Patienten.

„Über die Hälfte der Ärzte in meinem Landkreis ist bereits über 60 Jahre alt.“ (Landrat Georg Huber)

Atefines; CC0; Pixabay

Gesundheits- und Pflegepolitische Herausforderungen

Der Landtagsabgeordnete Bernhard Seidenath bestätigt: „Eine überall im Land ausreichende medizinische Versorgung dauerhaft sicherzustellen, ist eines der drängendsten politischen Themen, die wir in Bayern haben“. Er sieht mit Sorge, dass in den nächsten Jahren viele Ärzte ihre Praxis altersbedingt aufgeben werden.

„Über die Hälfte der Ärzte in meinem Landkreis ist bereits über 60 Jahre alt“, sagt Georg Huber, Landrat des Landkreises Mühldorf am Inn. „Gerade auf dem Land gab es bisher Hausärzte als Einzelkämpfer. Die nachfolgende Generation erwartet sich etwas Anderes – eher ein Angestellten- oder Teilzeitverhältnis. Daher sind überörtliche Gemeinschaftspraxen und Kooperationsformen wie Medizinische Versorgungszentren (MVZ) als gemeinnützige GmbH sinnvoll.“ Die Gesundheitsregion sei ein guter Beitrag, weil es die Akteure in der Region zusammenbringe. Man wolle in den Dialog mit den Bürgermeistern treten und versuchen, solche MVZs zu etablieren, parallel dazu den ÖPNV auszubauen und außerdem die Apotheken erhalten.  

Da es hier einen Fachkräftemangel gibt und immer weniger für eine Niederlassung im ländlichen Raum gewonnen werden können, spitzt sich die Lage zu. 

Alte Dame wird von jüngerer Dame einen Gang in einem Krankenhaus entlanggeführt.

Bernhard Seidenath, MdL, fordert eine bessere Bezahlung für soziale Berufe, bessere Arbeitsbedingungen und mehr Wertschätzung.

sarcifilippo; CC0; Pxiabay

Der Bayerische Landtag hat sich daher intensiv mit der Frage beschäftigt, wie man mehr Ärzte auf das Land bekommt. Der gesundheits- und pflegepolitischer Sprecher der CSU-Landtagsfraktion nannte konkrete Punkte, die angegangen werden sollen:

  • Hausärzte sind die Generalisten, die die Menschen draußen brauchen. In jeder Medizinischen Fakultät bräuchte es daher einen Lehrstuhl für Allgemeinmedizin, der dem Beruf mehr Gewicht verleiht und über die Forschung wichtige Grundlagen vermittelt. Bisher gibt es an der LMU und an der TU München ein Institut bzw. Lehrstuhl für Allgemeinmedizin. Weitere sollen folgen, z.B. an der Uni Augsburg.
  • Für Bayern wird eine Landarztquote eingeführt. Bis zu fünf Prozent aller Medizinstudienplätze sollen dabei für Studierende vorgehalten werden, die sich bereit erklären, später als Hausarzt in Regionen zu arbeiten, die ärztlich unterversorgt sind.
  • Weitere Ansätze, die Absolventen dazu bringen, ihren Beruf auf dem Land auszuüben, sind etwa Praktika im ländlichen Raum bereits während der Ausbildung. Ebenso wichtig ist es, in der Ausbildung das für die Praxisführung notwendige betriebswirtschaftliche Knowhow zu vermitteln. 
  • In Bayern gibt es neben dem Stipendiatenprogramm auch eine Niederlassungsförderung für Ärzte im ländlichen Raum. Die Zuwendung beträgt bis zu 60.000 Euro. Bei besonderer Bedeutung kann auch die Filialbildung gefördert werden (bis zu 15.000 Euro).

Gerade im Pflegebereich gibt es einen massiven Fachkräftemangel –in den Ballungsräumen sogar noch extremer als auf dem Land. Verbesserungsmöglichkeiten sieht Seidenath nicht nur in der Errichtung weiterer Altenpflegeschulen. Auch die Pflegestützpunkte und Hebammen gelte es zu unterstützen, außerdem könnten die Bundesfreiwilligendienste ausgebaut werden. Vor allem aber, da sind sich Experten Betroffene einig, brauchte es für die Berufsgruppe eine bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen sowie mehr öffentliche Wertschätzung. 

Sozialarbeit in den Gemeinden und Landkreisen

Auf eine Entwicklung, die in der Öffentlichkeit kaum jemand wahrnimmt, verweist Dr. Klaus Schulenburg, vom Bayerischen Landkreistag: „Die Betreuer in den Jugend- und Sozialhilfeeinrichtungen beobachten, dass gesellschaftliche Entwicklungen, die früher eher von den Städten bekannt waren, jetzt auch in den ländlichen Raum überschwappen“. Demnach gebe es auch auf dem Land immer mehr Familien, die nicht klarkommen, und inzwischen auch hier einen Bedarf für Streetworker. Erziehungsaufgaben würden zunehmend verlagert.

Info: Kommunalbüro für ärztliche Versorgung im Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit

Das Kommunalbüro berät als „Kompetenzzentrum“ Kommunen bei der Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung und bei Problemen zur Verbesserung der ärztlichen Versorgung. Es arbeitet gemeinsam mit Kommunen, der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns, Krankenhäusern und öffentlichem Gesundheitsdienst an den Herausforderungen vor Ort. Das Kommunalbüro für ärztliche Versorgung unterstützt regionale Vernetzung und Strukturbildung und wirkt bei Bedarf bei den Gesundheitsregionenplus mit.

Die Beine eines jungen Menschens mit zerrissener Hose ragen aus einer Einbuchtung in einer Betonstruktur. Das Handy in der Hand ist auch zu sehen. Graffiti, Schmutz, Verwarlosung.

„Die Betreuer in den Jugend- und Sozialhilfeeinrichtungen beobachten, dass gesellschaftliche Entwicklungen, die früher eher von den Städten bekannt waren, jetzt auch in den ländlichen Raum überschwappen.“ (Dr. Klaus Schulenburg, Bayerischer Landkreistag)

marcino; CC0; Pixabay

Aber auch die Schulen und Unternehmen benötigten dringend ergänzende Unterstützung, etwa in Form von Schulsozialarbeit oder bei der Integrationsarbeit. Diese Entwicklung lasse sich auch an den drastisch angestiegenen Ausgaben und Personalstellen für die Sozial- und Jugendhilfe in den Landratsämtern ablesen.  

"Tatsächlich sind die Aufgaben der Kommunen im Bereich Soziales gewachsen. Man denke da nur an den Anspruch der Eltern auf Ganztagesplätze für die Kinderbetreuung oder an die Integrationsarbeit. Aber viele Dinge haben wir auch selbst in der Hand“, sagt Stefan Rößle, seit 2002 Landrat des Landkreises Donau-Ries und zugleich Vorsitzender der Kommunalpolitischen Vereinigung. Als Beispiel für die Tatkraft nennt er zehn Dörfern in seinem Landkreis, in denen durch ehrenamtliche Engagement Dorfläden ins Leben gerufen werden konnten. Dies mache ihm Hoffnung. „Nach einem ähnlichen Prinzip versuchen wir jetzt die Freibäder weiter zu halten“. Er hält es für ungemein wichtig, auf Landkreisebene voran zu gehen zu sein und den Gemeinden eine Plattform für den Austausch zu bieten: „Wenn die Gemeinden z.B. ihre Kultur- und Sozialangebote auf Landkreisebene koordinieren und gemeinsam bewerben, dann sieht man, was insgesamt auf dem Land so alles geboten ist und erkennt, dass da durchaus viel los ist! Das Leben auf dem Land ist keine Last, sondern macht Lust!“

Sommerkolloquium 2018

Dieser Bericht geht zurück auf Ergebnisse des gemeinsamen Sommerkolloquiums 2018 der Bayerischen Akademie Ländlicher Raum und der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung zum Thema „Soziale Infrastrukturen - auch eine Frage gleichwertiger Lebensverhältnisse".

Einen weiteren Bericht zu der Veranstaltung, der den Fokus mehr auf die Bedeutung des Sozialkapitals legt, finden Sie hier: "Das Soziale – der Kitt unserer Gesellschaft!“  

Im Rahmen der Veranstaltung wurden weitere konkrete Beispiele zu Initiativen auf gemeindlicher Ebene genannt:

Soziale Projekte rücken zunehmend in das Blickfeld der Instrumente der Landentwicklung, ob in der Dorferneuerung oder in den Integrierten Ländlichen Entwicklungskonzepten (ILEK). Sie befassen sich noch stärker als bisher mit dem gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Zusammenleben und Zusammenwirken. Ein Beispiel ist die die Gemeinde Feldkirchen-Westerham mit dem Verein „Netzwerk Soziales Dorf“.

Immer mehr landwirtschaftliche Betriebe werden im sozialen Unternehmertum aktiv, engagieren sich sozial oder stellen ihren Betrieb für soziale Organisationen zur Verfügung (z.B. Betreutes Wohnen, Werkstätten für Menschen mit Behinderung, erlebnispädagogische Angebote). Dies bietet landwirtschaftlichen Betrieben die Möglichkeit der Diversifikation – und sozialen Initiativen pädagogisch wertvolle Erfahrungsräume. Mittlerweile gibt es drei regionale Netzwerke unter der Leitung von Mitarbeitern der Ämter für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sowie einen Verein „Soziale Landwirtschaft Bayern e.V.“ 

Mehr Infos hier: Landwirtschaftsministerium

 

Umwelt und Energie, Städte, Ländlicher Raum
Silke Franke
Leiterin