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Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland
Neueste Erkenntnisse aus der Migrations- und Integrationsforschung

Autor: Dr. Susanne Schmid

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat eine der größten Fluchtbewegungen in der Nachkriegszeit ausgelöst. Allein nach Deutschland sind seit Februar 2022 über eine Million Menschen geflohen. Doch was wissen wir über die Lebenssituation und die Zukunftspläne der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland? Im Interview spricht Migrationsforscherin Dr. Tetyana Panchenko über ihre eigenen Erfahrungen und die neusten Erkenntnisse zur Situation ukrainischer Geflüchteter in Deutschland.

Seit Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs am 24. Februar 2022 wurden über 1,1 Millionen Personen aus der Ukraine in Deutschland registriert. Mit Polen gehört Deutschland damit zu den EU-Ländern, welche die meisten Geflüchteten aus der Ukraine aufgenommen haben. Doch wie geht es diesen Menschen? Was wissen wir über die sozioökonomische Lage, die Familiensituation, Unterbringung, Arbeitsmarktbeteiligung, Bleibeabsichten und Integrationsbemühungen der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland? Welche amtlichen Statistiken und Befragungsergebnisse liegen mittlerweile vor?

Vor dem Bundestag wehen die Fahnen der EU, Deutschlands und der Ukraine.

Was wissen wir über die mehr als eine Million Geflüchteten aus der Ukraine, die bei uns leben? Welche amtlichen Statistiken und Umfrageergebnisse gibt es?

Omm-on-tour; HSS; Adobestock

Die erste gemeinsame Fachtagung der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) mit der Deutschen Gesellschaft für Demographie (DGD) fand im Oktober 2022 statt und zielte darauf, die Datenlage zu Geflüchteten aus der Ukraine in Deutschland zu sondieren.

Die Folgeveranstaltung im Februar 2024 diente der eingehenden Analyse und Diskussion der mittlerweile vorliegenden empirischen Erkenntnisse zur Situation der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland. Zusätzliche Aufschlüsse erbrachte ein Ländervergleich mit Österreich und Polen.

Mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Behörden und Politik wurden die gewonnenen Forschungsergebnisse erörtert, Integrationshürden identifiziert und Handlungsoptionen herausgearbeitet.

INFO:

Am 16. Februar 2024 organisierte die Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung eine Online-Fachtagung mit dem Titel „Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland und Österreich – Was wissen wir über ihre Familiensituation, Unterbringung, Arbeitsmarktbeteiligung und Integration?“ in Kooperation mit den DGD-Arbeitskreisen „Migration, Integration, Weltbevölkerung“ (geleitet von Dr. Susanne Schmid, HSS, und Prof. Dr. Sonja Haug, OTH-Regensburg) und „Fertilität und Familie“ (geleitet von Dr. Sabine Diabaté, BiB, und Prof. Dr. Anne-Kristin Kuhnt, Universität Rostock).

Die Vortragenden waren:

  • Dr. Tetyana Panchenko, ifo Institut
  • Dr. Bernd Parusel, Schwedisches Institut für Europapolitische Studien (SIEPS)
  • Dr. Manuel Siegert, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)
  • Dr. Andreas Ette, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB)
  • Dr. Isabella Buber-Ennser, Vienna Institute of Demography (VID/ÖAW, WU)
  • Dr. Sonja Dörfler-Bolt, Österreichisches Institut für Familienforschung (ÖIF) an der Universität Wien
  • Prof. Dr. Petra Aigner, Johannes-Kepler-Universität Linz
  • Prof. Dr. Sonja Haug, Ostbayerische Technische Hochschule (OTH) Regensburg

Geleitet und moderiert wurde die Fachtagung von:

  • Dr. Susanne Schmid, HSS
  • Prof. Dr. Sonja Haug, OTH Regensburg
  • Dr. Sabine Diabaté, BiB
  • Prof. Dr. Anne-Kristin Kuhnt, Universität Rostock

Die wichtigsten Erkenntnisse der Fachtagung

Die Fachtagung ermöglichte einen tiefen Einblick in die Entwicklung und die aktuelle Lage der aus der Ukraine Geflüchteten in Deutschland, Österreich und Polen. Es wurde deutlich, dass trotz positiver Entwicklungen noch Herausforderungen und Hürden bestehen. Die vorgestellten Daten liefern wertvolle Erkenntnisse für die Forschung, Praxis und Politik. Sie dienen als Grundlage für mögliche Lösungsansätze, weitere Forschungen, zukünftige politische Entscheidungen und Praxisansätze.

Die Erkenntnisse der Fachtagung lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Innerhalb der EU zeigt sich eine ungleichmäßige Verteilung der ukrainischen Geflüchteten sowie Unterschiede in deren Rechten und Lebensverhältnissen.
  • Die Verlängerung der „Richtlinie zum vorübergehenden Schutz“ bietet Planungssicherheit bis März 2025. Doch was passiert danach? Eine weitere Verlängerung des vorübergehenden Schutzes auf gleicher rechtlicher Grundlage ist nicht ohne weiteres möglich. Der Zeitdruck bei der Suche nach Lösungen steigt. Ein Übergang von befristeten zu dauerhaften Lösungen ist bislang unklar.
  • Seit Kriegsbeginn sind über eine Million Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Während im Jahr 2022 rund 1,1 Millionen Zuzüge aus der Ukraine und 138.000 Fortzüge in die Ukraine verzeichnet wurden (Wanderungssaldo: 960.000), waren es im Jahr 2023 rund 277.000 Zuzüge und 156.000 Fortzüge (Wanderungssaldo: 121.000). Damit war die Nettozuwanderung aus der Ukraine nach Deutschland 2023 zwar erheblich geringer als noch im Vorjahr, sie ist aber weiterhin höher als noch vor dem russischen Angriffskrieg. Zum 30. November 2023 leben 1,157 Millionen ukrainische Staatsangehörige in Deutschland (Statistisches Bundesamt, 2024). Die Bleibeabsicht ist von Faktoren wie der Anwesenheit des Partners, Sprachkenntnissen und der Dauer des Krieges abhängig. Die Rückkehrbereitschaft wird im Zeitverlauf geringer.
  • Die nach Kriegsbeginn aus der Ukraine Geflüchteten waren größtenteils Frauen und Kinder mit relativ hohem Bildungsgrad und Sozialstatus. Die mittlerweile ankommenden Geflüchteten haben einen höheren Unterstützungsbedarf, auch steigt der Männeranteil.
  • Die Herausforderungen durch die hohe Zahl minderjähriger Kinder und getrenntlebender Familien bleiben bestehen. Weitere Angebote an Bildungs- und Betreuungsplätzen sind notwendig, damit vor allem Mütter Sprachkurse besuchen und eine Erwerbstätigkeit aufnehmen können. Insbesondere in den Städten gibt es gestiegene Infrastrukturanforderungen an Bildungseinrichtungen, Wohnpolitik und Gesundheitsversorgung.
  • Die soziodemographischen Merkmale von ukrainischen Geflüchteten in Deutschland, Österreich und Polen sind vergleichbar. In Deutschland und Österreich – und in geringerem Maße in Polen – zeigt sich ebenfalls eine Selbstselektion unter den ukrainischen Geflüchteten hinsichtlich des Bildungsstands, ihres sozialen Kapitals und ihrer materiellen Situation. Die Statistiken zeigen: Je weiter die ukrainischen Geflüchteten sich geographisch von der Ukraine entfernen, desto höher ist ihr sozioökonomischer Status und Bildungsstand, und umso weniger ausgeprägt sind ihre Rückkehrabsichten.

                                               Zum ausführlichen Tagungsbericht

Dr. Tetyana Panchenko ist seit März 2022 Fachreferentin am ifo Institut im Zentrum für Internationalen Institutionenvergleich und Migrationsforschung und dort vor allem im Projekt "Anpassungs- und Integrationsstrategien von Geflüchteten aus der Ukraine in Deutschland" tätig. Vorher war sie Dozentin am Institut für Politikwissenschaft und am Institut für Politische Soziologie an der V. N. Karazin Charkiw Nationale Universität in Charkiw (Ukraine). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Analysen internationaler Migration sowie qualitative und quantitative Befragungen.

Dr. Tetyana Panchenko ist seit März 2022 Fachreferentin am ifo Institut im Zentrum für Internationalen Institutionenvergleich und Migrationsforschung und dort vor allem im Projekt "Anpassungs- und Integrationsstrategien von Geflüchteten aus der Ukraine in Deutschland" tätig. Vorher war sie Dozentin am Institut für Politikwissenschaft und am Institut für Politische Soziologie an der V. N. Karazin Charkiw Nationale Universität in Charkiw (Ukraine). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Analysen internationaler Migration sowie qualitative und quantitative Befragungen.

HSS; Panchenko Tetyana

Interview mit der ukrainisch-stämmigen Migrationsforscherin Dr. Tetyana Panchenko vom ifo Institut

Um mehr über die Lebenssituation und die Zukunftspläne der Geflüchteten aus der Ukraine in Deutschland zu erfahren, haben wir im Rahmen der Fachtagung mit der ukrainisch-stämmigen Migrationsforscherin Dr. Tetyana Panchenko gesprochen.

HSS: Frau Dr. Panchenko, Sie sind 2015 mit Ihrem Mann aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Sehen Sie Parallelen zwischen Ihren Erlebnissen in Deutschland und denen der ab 2022 Geflüchteten?

Dr. Tetyana Panchenko: Ich bin Anfang 2015 mit meiner Familie nach Deutschland gekommen, als der Krieg im Donbas schon fast ein Jahr andauerte. Wir kommen aus Charkiw, das 40 Kilometer von der Grenze zu Russland und damals 200 Kilometer von der Konfliktzone entfernt lag. Wir spürten, dass Russland nicht aufhören würde, also intensivierte mein Mann seine Arbeitssuche in der Westukraine und im Ausland und erhielt im Herbst 2014 eine Einladung, in Deutschland zu arbeiten. Im Gegensatz zu den Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern, die nach dem 24. Februar 2022 gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen, trafen wir unsere Entscheidungen rational, hatten Zeit, uns vorzubereiten – aber wie die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer im Jahr 2022 wollte ich nicht weggehen. Ich konnte meine Stelle bei der Universität Charkiw vorerst behalten und von Deutschland aus weiterarbeiten. Ich habe die Sprache gelernt, einen schwierigen Weg der Integration in den Arbeitsmarkt beschritten und über Rückkehr nachgedacht. Wäre die Pandemie nicht gewesen, wären wir wahrscheinlich längst zurückgekehrt. Mitten im Krieg wollen wir natürlich nicht zurück; wir schließen jedoch eine Rückkehr nicht aus, um die Ukraine wiederaufzubauen.

HSS: Sie forschen seit 2022 am ifo Institut zu Geflüchteten aus der Ukraine in Deutschland. Was wissen wir bisher über diese Menschen? Wie geht es ihnen in Deutschland?

Wir haben qualitative Interviews zu Beginn des Krieges und fünf quantitative Online-Umfragen von Mai 2022 bis Januar 2024 durchgeführt. In jeder Welle wurden etwa 1.000 bis 2.000 Geflüchtete aus der Ukraine befragt. Die Ergebnisse der Online-Umfragen zeigen, dass zu Kriegsbeginn aus der Ukraine vor allem ausgebildete und erwerbstätige Frauen mit Kindern gekommen sind. In der Ukraine hatten die meisten von ihnen einen hohen sozialen Status, finanzielle Stabilität und Immobilienbesitz. Im Laufe der Zeit beobachten wir jedoch Veränderungen in den soziodemografischen Merkmalen der Geflüchteten, nämlich einen Anstieg von Männern und Personen, die mit Partner in Deutschland sind, gleichzeitig einen Rückgang von Verheirateten und Familien mit Kindern. Solche Veränderungen lassen auf Familienzusammenführung in Deutschland oder der Ukraine schließen. Vergleicht man die sozioökonomischen Merkmale der Befragten aus verschiedenen Wellen, zeigt sich, dass im Laufe der Zeit das Bildungsniveau, der Beschäftigungsgrad und der Sozialstatus der nach Deutschland Geflüchteten zurückgegangen sind. Das heisst, in den ersten Monaten des Krieges war die Selbstselektion der Geflüchtete nach diesen Charakteristika ausgeprägter als in den darauffolgenden Monaten. Ferner flüchten immer mehr sozial benachteiligte Personen und Kriegsversehrte aus der Ukraine nach Deutschland.

Wie es den Geflüchteten aus der Ukraine in Deutschland geht, hängt von vielen Faktoren ab: ihrer Familien- und Lebenssituation, dem Grad der Integration, ihren Zukunftsplänen usw. Traditionell fühlen sich die Ukrainerinnen und Ukrainer, die in Deutschland mit einem Partner bzw. einer Partnerin leben, eine eigene Wohnung haben, berufstätig sind und die Sprache erfolgreich gelernt haben, in Deutschland wohler.

HSS: Trotz einer guten Ausbildung sind viele Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland nicht erwerbstätig. Woran liegt das? Was wäre zu tun?

Die Mehrheit der Geflüchteten aus der Ukraine mit Hochschulabschluss möchte in ihrem Fachgebiet arbeiten oder zumindest eine qualifizierte Tätigkeit ausüben. Die Jobcenter bieten jedoch vor allem ungelernte Tätigkeiten an und die eigenständige Arbeitssuche der Ukrainerinnen und Ukrainern – denen es oft an Sprachkenntnissen und an für Deutschland relevanten Kenntnissen und Erfahrungen fehlt – bleibt oft erfolglos. Um die Integration von hochqualifizierten ukrainischen Geflüchteten zu beschleunigen, ist es ratsam, spezielle Programme für ihren Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt zu entwickeln und umzusetzen. Sie sollten auf bestimmte Tätigkeitsbereiche ausgerichtet sein und den Erwerb von Fachvokabular, die Einarbeitung in Arbeitsrecht und Berufsethik sowie umfangreiche Praktikums- und Lernmöglichkeiten beinhalten. Bislang gibt es nur sehr wenige solcher Programme und nur wenige Möglichkeiten für Praktika in Unternehmen und Firmen.

Einzelne Initiativen von Zivilgesellschaft und Wirtschaft (wie das Qualifizierungsprogramm „Bankwissen-Kompakt“ vom Verein VESNA und der Sparkasse Hochschwarzwald), die sich auf die Beschäftigung von Fachkräften in einem bestimmten Bereich konzentrieren, sollten vom BAMF, den Arbeitsagenturen sowie Organisationen, die sich mit Erwachsenenbildung und Berufsberatung befassen, eingehend untersucht werden. Auf der Grundlage dieser Untersuchungen sollten entsprechende groß angelegte Programme entwickelt werden.

HSS: Die Mehrheit der ukrainischen Geflüchteten sind Mütter mit Kindern. Was wissen wir über deren Lebenslage und Integration in Deutschland?

Unsere Daten zeigen, dass der Anteil der Frauen mit Kindern in den vergangenen zwei Jahren zurückgegangen ist. Der Anteil ukrainischer Kinder im Vorschulalter ist gering, die überwiegende Mehrheit der Mütter hat Schulkinder. Nach unseren Angaben besucht etwa die Hälfte von ihnen sowohl deutsche als auch ukrainische Schulen. Dies ist eine enorme Belastung für die Kinder und in vielen Fällen auch für ihre Mütter, die versuchen, die Familienerziehung in einer ukrainischen Schule zu organisieren. Auch die Kinder, die nicht in die beiden Bildungssysteme eingebunden sind, haben oft Schwierigkeiten aufgrund unzureichender Sprachkenntnisse, Konflikten mit Gleichaltrigen und mangelndem Verständnis und Unterstützung durch die Lehrer. Generell lässt sich sagen, dass das Tempo der Integration von Kindern und Erwachsenen recht unterschiedlich ist. Vieles hängt von den familiären Umständen, der Schulart, der Klasse und dem einzelnen Lehrer ab.

HSS: Die Dauer des Krieges ist nicht nur ein entscheidender Faktor für die Zahl der Geflüchteten aus der Ukraine, sondern auch für deren weitere Lebensplanung. Womit rechnen Sie perspektivisch?

Tatsächlich haben sich die Erwartungen hinsichtlich der Dauer des Krieges in den vergangenen zwei Jahren verändert, was sich auf die Lebenspläne ausgewirkt hat. Während im ersten Jahr mehr als 40 Prozent der Befragten davon ausgingen, dass der Krieg innerhalb eines Jahres nach der Befragung enden würde, sind es im Jahr 2024 nur noch neun Prozent von ihnen. Der Anteil derjenigen, die planen, mindestens zwei Jahre in Deutschland zu bleiben, ist im Befragungszeitraum von 52 auf 84 Prozent gestiegen, der Anteil derjenigen, die nicht vorhaben, in die Ukraine zurückzukehren, von 21 auf 48 Prozent. Es liegt auf der Hand: Je länger der Krieg dauert, desto weniger Ukrainerinnen und Ukrainer werden zurückkehren. Daher ist die Integration der ukrainischen Geflüchteten von entscheidender Bedeutung für sie selbst, für ihre Aufnahmegesellschaften und für diejenigen, die zurückkehren werden um die Ukraine wiederaufzubauen.

HSS: Frau Dr. Panchenko, vielen Dank für das Gespräch.

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