Print logo

Expertengespräch
Projektion 2060 - Zukunft der Kirchen

Die Mitgliederzahlen der evangelischen und katholischen Kirche werden sich in Deutschland bis zum Jahr 2060 um etwa die Hälfte reduzieren. Das prognostiziert eine Studie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, die von der evangelischen und katholischen Kirche in Auftrag gegeben wurde. Die Folgen dieser Entwicklung auf Gesellschaft und Demokratie diskutierte eine Expertenrunde. Welche Herausforderungen und welche Chancen liegen in der Zukunft?

Informationsaustausch zwischen Oliver Jörg, Generalsekretär der Hanns-Seidel-Stiftung, einem Experten und Dr. Philipp W. Hildmann, Leiter Strategieentwicklung und Grundsatzfragen der Hanns-Seidel-Stiftung

Informationsaustausch zwischen Oliver Jörg, Generalsekretär der Hanns-Seidel-Stiftung, einem Experten und Dr. Philipp W. Hildmann, Leiter Strategieentwicklung und Grundsatzfragen der Hanns-Seidel-Stiftung

HSS/Maximilian Witte

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die römisch-katholische Deutsche Bischofskonferenz (DBK) ließen sich vom Forschungszentrum Generationenverträge der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg erstmals eine Prognose über die künftige Entwicklung ihrer Mitgliederzahlen und ihre steuerlichen Erträge erstellen.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der Ratsvorsitzende der EKD, Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm, sind alarmiert und wissen, dass sie reagieren müssen. Mit den rückläufigen Mitgliederzahlen stellt sich auch die Frage, wie sich die Einnahmen der Kirchensteuer entwickeln wird. Wie können dann kirchliche Einrichtungen wie Schulen, Pflegeheime oder Krankenhäuser erhalten und das Personal bezahlt werden? Wie wird sich die Pastoral verändern?

Die vorausgesagten Veränderungen werden sich nicht nur auf die beiden Kirchen auswirken, sondern auch auf Gesellschaft und Politik. Was bedeutet es, wenn Christen zur radikalen Minderheit in Teilen des Landes werden? Welche Auswirkungen ergeben sich für unsere Demokratie und die Parteien, die „Sprachrohre“ des Volkes? Welche Möglichkeiten hat eine Partei, die sich seit ihrer Gründung zur christlichen Werteorientierung bekennt, auf die Studie 2060 zu reagieren? Volkskirchen und Volksparteien stehen vor ähnlichen Problemen.

Information

In Deutschland gibt es 20 evangelische Landeskirchen und 27 katholische (Erz-)Bistümer. Die Tendenz ist deutlich: Beide christlichen Konfessionen werden in den kommenden Jahren und Jahrzehnten bis 2060 etwa die Hälfte ihrer Mitglieder verlieren. Für diesen Trend ist nicht, wie erwartet, die demographische Entwicklung hauptverantwortlich. Sondern es sind die Kirchenmitglieder im Alter von 25 bis 40 Jahren. Viele von ihnen werden – so die Studie – aus ihren Kirchen austreten. Außerdem werden viele getaufte Eltern ihre Kinder nicht mehr zur Taufe bringen. Neu ist diese Entwicklung nicht. Bereits seit Jahren und Jahrzehnten verlassen die katholischen und evangelischen Christen ihre Kirchen. Aber dieser Trend, dies legt die Studie nahe, ist nicht unumkehrbar. Die Kirchen stehen deshalb vor großen Herausforderungen. Wie werden sie die Studienergebnisse nutzen? Können sie dem prognostizierten Trend gegensteuern?

Mit einem Eingangsstatement eröffnete Prof. Ursula Männle, Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung das Expertengespräch über die Zukunft der Kirchen

Mit einem Eingangsstatement eröffnete Prof. Ursula Männle, Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung das Expertengespräch über die Zukunft der Kirchen

HSS/Maximilian Witte

Um diese Themen zu diskutieren hat die Hanns-Seidel-Stiftung am 26. Juli 2019 zur Expertenrunde „Die Zukunft der Kirchen und Konsequenzen für Demokratie und Gesellschaft“ prominente Persönlichkeiten aus Kirche und Politik eingeladen. Als Politische Stiftung, die im In- und Ausland tätig ist, hat sie sich zur Aufgabe gemacht, die „demokratische und staatsbürgerliche Bildung des deutschen Volkes auf christlicher Grundlage“ zu fördern. So gehört die Analyse, wie sich Kirchen und Politik entwickeln, auch zu ihren Themen.

Das Eingangsstatement wurde von Prof. Ursula Männle, der Vorsitzenden der HSS gehalten. Bewusst hätten sich CDU und CSU seit ihrer Gründung an christlichen Werten orientiert und offen für beide Konfessionen gezeigt. Ausführlich zitierte die Vorsitzende den jüngst verstorbenen, ehemaligen Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde:

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“

Die nun vorliegende Langzeitstudie „Projektion 2060“ lege die Vermutung nahe, dass dieses Fundament unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung in absehbarer Zeit massiv erodieren dürfte. Mit unabsehbaren Auswirkungen auf die Bindekraft gemeinsam geteilter Grundüberzeugungen, auf das Verständnis vom Menschen und den Umgang mit ihm.

„Wird dem freiheitlichen, säkularisierten Staat“, so Männle, „das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen ist, selbst zum Verhängnis? Stirbt der freiheitliche, säkulare Staat an Voraussetzungen, die er sich selbst geschaffen hat?“  

Die Expertenrunde wurde moderiert von Dr. Philipp W. Hildmann, Leiter Strategieentwicklung und Grundsatzfragen der Hanns-Seidel-Stiftung.

Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen beschrieb anschaulich die Ergebnisse der Langzeitstudie „Projektion 2060- Zukunft der Kirchen“

Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen beschrieb anschaulich die Ergebnisse der Langzeitstudie „Projektion 2060- Zukunft der Kirchen“

HSS/Maximilian Witte

Die Fakten

Der Leiter der Studie „Projektion 2060“, Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen, präsentierte die Prognosen und Ergebnisse der Studie. Er ist Wirtschaftswissenschaftler mit Ausrichtung auf Finanzwissenschaft und Sozialpolitik und Direktor des Forschungszentrums Generationenverträge und des Instituts für Finanzwissenschaft und Sozialpolitik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dort wurde die Studie über mehrere Jahre erstellt. Bernd Raffelhüschen lehrt zusätzlich an der Universität Bergen in Norwegen.

Schon lange seien wir eine alternde Bevölkerung, so der Wissenschaftler, kinderreiche Familien fehlten, wir seien langlebiger, vor allem Frauen, und es gebe verschiedene Migrationsströme. Auch für den kirchlichen Bereich gelte das. Bis zum Jahr 2035 könnten die Mitgliederzahlen sehr präzise für Kirche und Politik prognostiziert werden. Und diese Prognose sei düster. Raffelhüschen resümierte:

„Diese Messe ist gelaufen!“

Zur demographischen Entwicklung kämen Kirchenaustritte und fehlenden Taufen hinzu. Davon abhängig könne dann die Kirchensteuer berechnet werden. Nominal werde sie vermutlich konstant bleiben, doch die Kaufkraft werde etwa um die Hälfte sinken. Für junge Menschen zwischen 20 und 40 Jahren sei die Lohnsteuerkarte maßgebend, also die Frage danach, was ich für mein Geld bekomme. Vor allem deswegen würden sie aus ihren Kirchen austreten, nicht vorrangig wegen der Missbrauchsskandale. Aber das Positive sei: Wenn Wunsch und Wille da wären, so Raffelhüschen, könnten wir uns entscheiden, wie wir uns entwickeln.

Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler sieht Herausforderungen als Chance

Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler sieht Herausforderungen als Chance

HSS/Maximilian Witte

Herausforderung als Chance

Die Zahlen und Fakten der Studie kommentierte fulminant aus evangelischer Sicht Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler, Ständige Vertreterin des Landesbischofs und Oberkirchenrätin im Kirchenkreis München und Oberbayern.
Ihre journalistische Ausbildung erhielt sie bei der SZ und beim BR, auch in der ARD war sie über einige Jahre beim Wort zum Sonntag zu sehen und zu hören.

Breit-Keßler argumentierte:

"Die Zahlen sind veröffentlicht, ist nun alles sinnlos? Nein. Wir können ja etwas machen!“

„Keine Zeit für Panik“, so lautete der Titel einer ihrer Predigten, und dieser Slogan gelte auch für den Umgang mit der Prognose. Sie fühle sich bei den Ergebnissen der Studie an alttestamentliche Prophezeiungen erinnert. Vom persönlichen Umkehrwillen und der Bußfertigkeit hänge ab, ob das Unheil eintreffe oder nicht. Also stellte sie die Frage nach dem, was wir verbessern können oder wollen: Was wollen die Menschen? Sie wünschten sich Erreichbarkeit, dass ihnen zugehört werde. Für ihre Kirche bedeute dies, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, Authentizität im kirchlichen Amt und Leben sowie offenen demokratischen Diskurs zu pflegen. Die Regionalbischöfin sieht die Herausforderungen als Chance.

Die ausführliche Rede der Regionalbischöfin finden Sie hier als pdf-Datei.

Eine Chance für die Kirchen könnte nach Matthias Drobinski darin bestehen, das Besondere zu präsentieren, ungewöhnliche Menschen, Orte und Lebensformen

Eine Chance für die Kirchen könnte nach Matthias Drobinski darin bestehen, das Besondere zu präsentieren, ungewöhnliche Menschen, Orte und Lebensformen

HSS/Maximilian Witte

Abschied von Selbstverständlichkeiten

Für die Süddeutsche Zeitung in München ist seit 1997 Matthias Drobinski als Redakteur für Kirchen und Religionsgemeinschaften tätig. Die Lage, so seine Einschätzung, werde für beide Kirchen komplizierter. Beide Kirchen, so der Journalist, würden Minderheiten werden. Aber auch diese könnten Gesellschaft gestalten. Er erinnerte an die Anfänge der Bundesrepublik. Auch 1945 seien die Kirchen Minderheiten gewesen. Es gehe nicht um Zahlen, sondern um das, was die Kirchen zu sagen hätten! Sie müssten sich Fragen stellen, wie sie zwischen Tradition und Moderne vermitteln könnten, wie sie Frauen im kirchlichen Dienst einsetzten und mit dem Zölibat umgingen.

Die Kirchen der Zukunft hätten die Aufgabe, die Gewöhnlichkeit des Alltags zu unterbrechen. Sie seien aufgefordert, etwas zu geben, was Menschen sonst nicht finden, wie etwa Ruhe, Raum zum Nachdenken. Das sei ihre Chance. Sie sollten kreativ sein, das ganze bunte Leben anbieten. Sie sollten ihre Qualitäten entwickeln und könnten Moderatoren in der Gesellschaft werden.

Die Orientierungslosigkeit in der Gesellschaft und den aggressiven Umgang miteinander thematisierte Christian Schmidt.

Die Orientierungslosigkeit in der Gesellschaft und den aggressiven Umgang miteinander thematisierte Christian Schmidt.

HSS/Maximilian Witte

Neue Ausrichtung ist gefragt

Etwas pessimistischer sieht Christian Schmidt, MdB, in die Zukunft. Die Gesellschaft sei aggressiv säkular geworden, es herrsche große Orientierungslosigkeit und Diversifizierung, so der frühere Bundesminister und amtierende Stv. Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung, der seit vielen Jahren auch Landesvorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises der CSU ist. Dieser aggressive Wandel der Gesellschaft sei nicht von Kirche und Politik rezipiert worden. Änderten sich die Lebensumstände, dann scheine auch der Stellenwert der Kirche zu schwinden. In ihrer gesellschaftlichen Bedeutung werde die Kirche marginalisiert. Die Wahrheit, so befürchtet Schmidt, sei noch schlimmer. Die Missbrauchsskandale seien oft der letzte Anstoß, um aus der Kirche auszutreten. Andererseits bestehe Interesse an Spiritualität und Transzendenz. Ähnliches gelte für politische Strukturen und Gewerkschaften, auch die Parteien seien vom Schwund der Mitglieder betroffen. Christian Schmidt wies darauf hin, dass die CSU ursprünglich konfessionsübergreifend gegründet worden sei als Konsequenz aus der Zeit des Nationalsozialismus. Heute sei die Partei allerdings nicht mehr so homogen christlich. Es gehe künftig darum, wie Kommunikation neu ausgerichtet und Werte vermittelt werden können.

Die Kirchen sind aufgefordert, ihre Bedeutung und ihren Wert für die Menschen heute zu zeigen, so Dr. Günther Beckstein

Die Kirchen sind aufgefordert, ihre Bedeutung und ihren Wert für die Menschen heute zu zeigen, so Dr. Günther Beckstein

HSS/Maximilian Witte

Engagiert und beherzt in die Zukunft

Nach den Impulsreferaten kommentierten und diskutierten die Gäste emotional und engagiert über Kirche, Zukunft und Glauben. Aus der Fülle der Diskussionsbeiträge wurden beispielhaft einige ausgewählt: Für Dr. Günther Beckstein, Ministerpräsident a. D., handelt es sich heute um „eine fundamentale Krise des Glaubens“. Er war der erste evangelische Ministerpräsident des Freistaats Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Kirchen müssten heute zeigen, welche Bedeutung sie für die Menschen hätten. Die Sicht der jungen Generation thematisierte der RCDS-Landesvorsitzende Felix Brandstätter in seinem Kommentar. Sie nutze primär online-Angebote und die Kanäle der Sozialen Medien. Sie hätten ein kaum ausgeprägtes hierarchisches Denken und forderten eine viel stärkere Mitbestimmung, auch in Kirche und Politik.

Als künftige Minderheit sieht auch Prof. Dr. Hans Christian Schmidbauer die Kirchen. Diese Position könnten sie nutzen, um Werte zu vermitteln

Als künftige Minderheit sieht auch Prof. Dr. Hans Christian Schmidbauer (2. v. l.) die Kirchen. Diese Position könnten sie nutzen, um Werte zu vermitteln

HSS/Maximilian Witte

Prof. Dr. Hans Christian Schmidbauer von der Facoltà di Teologia di Lugano (Schweiz) stellte fest:

„Wir werden irrelevant.“

Seit etwa 20 Jahren bemerke er eine Veränderung vom spekulativen Atheismus zum Herabschauen auf Gläubige. Die junge Generation habe sich heute vielfach von Religion emanzipiert. Sie sei dabei weder für Kirche und Glauben, noch dagegen. Es herrsche schlicht eine große Gleichgültigkeit. In Politik und Gesellschaft bemerke er neben einer Verrohung im Verhalten das Entstehen von immer mehr neuen Gruppen. Er sehe Ehrlichkeit und Menschenrechte in Gefahr. Diesem Trend entgegenzuwirken könne und müsse auch eine neue Aufgabe für die Kirchen sein.

Als ein Resümee dieser Expertenrunde könnte der Aufruf von Susanne Breit-Kessler an die Kirchen gelten, wieder „raus in die Welt“ zu gehen. Und Bernd Raffelhüschen ergänzte, dass das Christentum Werte habe und sinnstiftend wirken könne, auch für junge Menschen.

Autoren: Dr. Sabine Arlt und Dr. Philipp W. Hildmann