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Belgien
Keine Mehrheit mehr für Regierungskoalition

Nach den Wahlen in Belgien rücken die Möglichkeiten für eine kohärente Regierungskoalition in weite Ferne.

Nach den Wahlen im Jahre 2010 hatte es bis zur Bildung einer neuen belgischen Regierung rund anderthalb Jahre (exakt 541 Tage) gedauert. 2014 ging es deutlich schneller – nach vier schwierigen Verhandlungsmonaten wurde die „asymmetrische“ Mitte-Rechts Koalition aus flämischen Nationalisten (N-VA), Christdemokraten (CD&V) sowie flämischen (Open Vld) und wallonischen Liberalen (MR) unter Premierminister Charles Michel (MR), genannt „Michel I“, durch König Philippe vereidigt.

Rechts- und linksextreme Ränder stärker denn je

Rechts- und linksextreme Ränder stärker denn je

alex-vasey; ©0; Unsplash

Asymmetrisch bedeutet in diesem Kontext, dass der Regierung drei niederländisch-sprachige aber nur eine französischsprachige Partei angehörten. Trotz aller düsteren Prognosen erreichte sie fast das Ende der regulären Legislaturperiode. Anfang Dezember 2018 entfachte die flämische N-VA jedoch einen Streit im Rahmen der Diskussion zum UN-Migrationspakt und zog sich unerwartet aus der Regierungsverantwortung zurück. Auf vorgezogene Neuwahlen wurde verzichtet, da die regulären Parlamentswahlen bereits für den 26. Mai angesetzt waren. Eine von König Philippe ernannte Minderheitsregierung aus MR, Open Vld und CD&V,  „Michel II“,  führte derweilen die Amtsgeschäfte weiter.

Mit den Wahlergebnissen 2019 rücken die Möglichkeiten zur Bildung einer kohärenten Regierungskoalition in noch weitere Ferne. Zu den großen Gewinnern zählen auf flämischer Seite der rechtsextreme "Vlaams Belang", der gleich 15 Sitze hinzugewinnt und zur national drittstärksten Kraft wird. Weiterer Gewinner ist die kommunistische Arbeiterpartei PTB*PVDA, die mit einer gemeinsamen Liste aus niederländisch und französischsprachigen Kandidaten erstmals und gleich mit zwölf Sitzen in die belgische Abgeordnetenkammer einzieht. Somit sind c. Je mehr der nördliche Teil Flandern nach rechts rückt, umso mehr orientiert sich der wallonische Teil nach links.

SPF Intérieur

Mit jeweils 25 und 20 Sitzen bleiben auf flämischer Seite die national-konservative N-VA bzw. auf französischer Seite die Parti socialiste (PS) trotz Verlusten dennoch landesweit die stärksten Gruppen. Es ist davon auszugehen, dass sich PS-Parteichef Elio di Rupo daher auch stark für die Beteiligung der PS an einer National-Regierung einsetzen wird. Diese würde jedoch die Erfolgsprognosen von Koalitionsverhandlungen weiter verschlechtern, nachdem N-VA-Chef Bart De Wever bereits im Vorfeld grundsätzlich jegliche Koalition mit wallonischen Sozialisten und Grünen ausgeschlossen hatte. Stattdessen plädiert der flämischen Regierungsbilder De Wever für eine noch striktere Trennung der beiden großen Landesteile und fordert den „Konföderalismus“ nach Schweizer Modell.

Auf französischsprachiger Seite punkteten die Grünen „Ecolo“ mit einem Zuwachs von sieben Sitzen. Die flämischen Grünen „Groen“ erhielten zwei zusätzliche Sitze.  Belgien könnte also seinen eigenen Rekord der längsten Regierungsbildung brechen. Die Botschaft der enttäuschten Wähler kam für die Regierungsparteien nicht von ungefähr und zog sich sowohl durch nationale als auch durch regionale und Europaparlamentswahlen.

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Gemischte Bilanz der Regierungen Michel I. und Michel II.

Die Wahlschlappe der Regierungspartien kam nicht überraschend: Viel Energie ging in programmatischen Debatten verloren, die Regierungsparteien befanden sich quasi im Dauerwahlkampf. Die Regierung unter Charles Michel war mit dem Anspruch angetreten, das belgische Sozialsystem zu reformieren und Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum zu generieren. Das flämische Nachrichtenmagazin Knack veröffentlichte kürzlich eine Bilanz der scheidenden Regierung mit dem Fazit, dass es zwar Fortschritte gab, aber die Messlatte in vielen Bereichen nicht erreicht worden sei. Die Maßnahmen zur Verlagerung der Besteuerung und der sogenannten Lohnmäßigung konnte nicht die anvisierte Zahl an neuen Arbeitsplätzen schaffen. Einschnitte und verstärkte Kontrollen bei Sozialleistungen, wie Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe stärkten augenscheinlich das Wählerpotenzial der Extremlinken (PTB*PVDA) in beiden großen Landesteilen. Das belgische Haushaltsdefizit konnte immerhin etwas abgebaut werden, von einem Gleichgewicht ist Belgien jedoch noch weit entfernt.

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Flämische Nationalisten und Rechtsextreme vorne

In Flandern erlebte der rechtsextreme Vlaams Belang (VB) ein überwältigendes Comeback und gewann im flämischen Parlament 17 Sitze hinzu. Die offen rassistische Partei, die sich für eine Unabhängigkeit Flanderns ausspricht, bildet nun mit 23 Sitzen die zweitstärkste Kraft im Flämischen Parlament.  „Neue Gesichter, neuer Stil, neue Themen“, titelte die deutschsprachige Tageszeitung Grenzecho. In der Tat konnte der erst 32-jährige und charismatische neue VB-Vorsitzende Tom Van Grieken wohl auch eine neue und vor allem junge Wählerschaft aus den traditionell konservativen ländlichen Gebieten mobilisieren. Mit kurzen und prägnanten Äußerungen in sozialen Medien und öffentlichkeitswirksamen Auftritten gelang es ihm, seinen Identitätsdiskurs gepaart mit linken sozioökonomischen Parolen erfolgreich zu vermitteln. Der Gewinn des VB geht vor allem zu Lasten der N-VA, die ihre ambitionierten Wahlversprechen der vergangenen Wahl aufgrund der komplexen Situation des Landes nicht voll umsetzen konnte.

Die flämisch-nationalistische N-VA bleibt trotz herber Verluste mit 35 Sitzen knapp stärkste Partei in Flandern und mit 25 der insgesamt 150 Sitze der nationalen Abgeordnetenkammer auch in Gesamtbelgien.

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Derweilen setzt sich die Wähler-Erosion bei den früheren starken Volksparteien CD&V, Open Vld und den flämischen Sozialisten sp.a  fort.  Gemeinsam erreichen sie mit 48 Sitzen nicht mal mehr die 50%-Marke. Sollte die N-VA sich nicht an den traditionellen Konsens des ‚Cordon sanitaire‘ um den Vlaams Belang halten, erreichte eine rechtsnational-rechtsextreme Koalition mit 58 Sitzen jedoch ebenfalls nicht die notwendige Mehrheit- ein schwacher Trost, zumal die Sondierungsgespräche von N-VA-Chef Bart De Wever mit verschiedenen Parteichefs, darunter auch Tom Van Grieken (VB), bereits begonnen haben.

Wallonien und Brüssel wählt (dunkel-) rot-grün

Genau entgegengesetzt zu ihren niederländisch-sprachigen Landsleuten entschieden sich die französischsprachigen Wähler in Wallonien und Brüssel, wo sie die mehrheitliche Bevölkerungsgruppe bilden. Zu den großen Gewinnern gehören dort die Grünen, die in Wallonien und in Brüssel sieben Sitze hinzugewannen und vom aktuellen „Klimawandel-Hype“ profitierten.  Die kommunistische PTB legte stark zu und verfügt nun sowohl im wallonischen Parlament als auch im Brüsseler Parlament über zehn Sitze.

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Die traditionell starke sozialistische Parti socialiste (PS) musste zwar größere Verluste hinnehmen, bleibt aber mit 23 Sitzen stärkste französischsprachige Kraft in Wallonien und im Brüsseler Parlament, in dem sie 17 Sitze innehat. Mit 20 Sitzen in der nationalen Abgeordnetenkammer ist sie ebenfalls die stärkste französischsprachige Partei des Landes und bildet die landesweit zweitstärkste Gruppe.

Es ist davon auszugehen, dass sich PS-Parteichef Elio di Rupo stark für die Beteiligung der PS an einer wallonischen und Brüsseler Regierung einsetzen wird.

Stimmen verloren hat die PS vor allem auch an die kommunistische Arbeiterpartei PTB*PVDA, die mit einer gemeinsamen Liste in beiden Landesteilen antrat und seit 2000 kontinuierlich an Stimmen hinzugewinnt. Stark ist sie vor allem in Großstädten mit Problemzonen wie Antwerpen oder Brüssel (Molenbeek). Mit dem flämischen Publizisten Peter Martens an der Spitze hat auch die PTB einen charismatischen und medienerfahren Vorsitzenden, der die junge Wählerschaft erfolgreich mobilisieren konnte.

Alles beim Altem in der der Deutschsprachigen Gemeinschaft

Einzig die Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG), der die regionale Bürgerpartei ProDG, die sozialistische SP und die liberale PFF-MR angehören, sitzt trotz einem verlorenen Sitz (bei PFF-MR) fest im Sattel. So dauerte es auch nur drei Tage, um die alte/neue Regierung im Amt zu bestätigen.

Oliver Paasch bleibt Ministerpräsident und übernimmt zusätzliche Befugnisse für den Bereich „Lokale Behörden und Gemeinschaftszentren“. Als aussichtsreichster Kandidat für den Posten des DG-Parlamentspräsidenten stellt sich der ehem. Ministerpräsident der DG und jetzige Präsident des Ausschusses der Regionen der EU, Karl-Heinz Lambertz, zur Wahl. Paasch und Lambertz wollen sich für die Erweiterung der Befugnisse der DG einsetzen, an deren Ende auch das Statut einer vierten Region Belgiens stehen könnte.

Mit dem Verlust eines Sitzes verfehlte die Christlich-Soziale CSP ihr erklärtes Ziel, nach zwanzig Jahren wieder auf die Regierungsbank zu rücken. Auch die Grünen, die zwar einen Sitz hinzugewannen und gerne mitregiert hätten, müssen auf eine Beteiligung an der Regierungskoalition verzichten.

Wie geht es auf nationaler Ebene weiter?

Der belgische König fungiert in der belgischen Politik als Vermittler und beauftragt traditionell einen sogenannten Informator mit der Regierungsbildung. Bereits am Tag nach der Wahl traf sich König Philippe zunächst mit Wahlsieger und N-VA-Präsident Bart De Wever, Gespräche mit den Vertretern der anderen Parteien folgten. Erstmals wurde auch der Parteivorsitzender des Vlaams Belang zur königlichen Audienz geladen.  Dies ist nicht die einzige Neuheit: Diesmal gibt es gleich zwei Informatoren und beide entstammen nicht der jeweilig am stärksten vertretenen Partei in der nationalen Abgeordnetenkammer: Es werden auf französischsprachiger Seite  Didier Reynders (MR) und für das niederländisch-sprachige Wahlkolleg Johan Vande Lanotte (sp.a) als erfahrene belgische Staatsmänner die ersten Sondierungsgespräche führen. Beide werden am 6. Juni 2019 dem König zum ersten Mal Bericht erstatten.

Belgien (Europa-Büro Brüssel)
Dr. Thomas Leeb
Leiter
Europäischer Dialog
Angela Ostlender
Programm Managerin