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Gegen die Feinde der Demokratie
Teil IV: Islamismus

Ist unsere offene Gesellschaft in Gefahr? Links- und Rechtsextremismus, Islamismus, Antisemitismus und Islamophobie greifen auch in Deutschland der freien Gesellschaft an die Wurzeln. Gemeinsam mit unseren Experten beleuchten wir hier die ideologischen Gefahren und stellen die Frage, wie wir mit politischer Bildung dagegenhalten können. Heute: der Umgang mit Islamismus mit dem Bayerischen Netzwerk für Prävention und Deradikalisierung gegen Salafismus .

Gerade führt die Corona-Pandemie uns allen vor Augen, wie wertvoll eine stabile demokratische Gesellschaft besonders in Krisenzeiten ist. Die Bevölkerung hat Vertrauen zueinander und gegenüber ihren Institutionen und politischen Vertretern. Das ist die Voraussetzung, um Herausforderungen gemeinsam zu bestehen.

Der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält, ist stark und gründet auf historischen Erfahrungen, kulturellen Gemeinsamkeiten, Traditionen, sozialen Konventionen und einem Fundament aus christlich, humanistisch und aufklärerisch geprägten Werten und Überzeugungen.

Aber es gibt auch Kräfte, die den Gesellschaftsvertrag ablehnen und uns spalten wollen. Links- und Rechtsextremismus, Islamismus, Antisemitismus und Islamophobie sind die Feinde der Freiheit und der Demokratie. Sie nagen an diesem Kitt, sähen Zweifel, stiften Verwirrung und verbreiten Unfrieden und Misstrauen zwischen den Menschen.

Das neue "Kompetenzzentrum Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Interkultureller Dialog" der Hanns-Seidel-Stiftung hat den Auftrag, zu identifizieren, wo genau der gesellschaftspolitische Konsens gefährdet ist, der unser friedliches Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft und prosperierenden Demokratie erst möglich macht.

In einer Reihe von Interviews rücken wir diese Feinde der Demokratie in den Fokus. Unsere Expertinnen und Experten nehmen uns mit hinein ins Grundsätzliche und Konkrete dieser Bedrohungen und geben Empfehlungen für die politische Bildungsarbeit, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu bewahren und zu stärken.

​​​​​​​Info:

Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz (BayLfV) informiert in seinem jährlichen Verfassungsschutzbericht u.a. über islamistische (auch legalistische) Organisationen und aktuelle Entwicklungen im Phänomenbereich. Außerdem hat es die Infobroschüre „Islamismus erkennen“ herausgegeben.

Das Banner Saudi-Arabiens mit kalligraphischem Schriftzug und einem Säbel darunter

Islamisten nutzen Deutschland als Rückzugs- und Ruheraum für die Rekrutierung, Radikalisierung und Indoktrinierung neuer Anhänger.

Chickenonline; ©0; Pixabay

Teil IV: Islamismus

Nach wie vor wird Deutschland von Islamisten als Feind wahrgenommen und steht unverändert im Fadenkreuz jihadistischer Anschlagspläne. Ziel ist die teilweise oder vollständige Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland; Mittel ist die terroristische Gewalt aber auch die schleichende Unterwanderung etwa durch legalistische Organisationen. Wir haben das Bayerische Netzwerk für Prävention und Deradikalisierung gegen Salafismus  befragt, wie hoch die Bedrohungslage aktuell ist und wie wir ihr begegnen können.

HSS: Der sogenannte "Islamische Staat" hat seine Anhänger aufgefordert, die Corona-Pandemie als Gelegenheit zu nutzen, westliche Gesellschaften durch Anschläge zu destabilisieren. Was Deutschland betrifft, so scheint dieser Aufruf bislang glücklicherweise weitgehend ungehört verhallt zu sein. Täuscht der Eindruck, oder ist die Bedrohungslage durch den Islamismus im Vergleich etwa zu Rechts- und Linksextremismus inzwischen wieder rückläufig?

Bayerisches Netzwerk für Prävention und Deradikalisierung gegen Salafismus: Die Corona-Krise wird von Extremisten aller Couleur für Propagandazwecke missbraucht. Aktuell stellt der Rechtsextremismus die größte Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland dar. Dennoch geht auch vom internationalen islamistischen Terrorismus weiterhin eine große Bedrohung für die internationale Staatengemeinschaft aus und trotz aller Fahndungserfolge bleibt er für die Innere Sicherheit Deutschlands eine der größten Gefahren. Der internationale islamistische Terrorismus tritt inzwischen sehr vielfältig in Erscheinung: Neben größeren Netzwerken existieren autark operierende Kleinstgruppen bis hin zu Einzeltätern. Die Aktivitäten islamistischer Terrorstrukturen in Deutschland reichen von der Nutzung Deutschlands als Rückzugs- und Ruheraum über die Rekrutierung, Radikalisierung und Indoktrinierung neuer Anhänger bis hin zur Planung terroristischer Anschläge.

Von islamistischen Terroranschlägen ist Deutschland 2019 zwar verschont geblieben, doch zeigt ein Blick auf Großbritannien, Norwegen oder Frankreich, dass die Gefahr weiter anhält. Dabei setzen die Täter als Merkmal eines „modernen“ Terrorismus zumeist auf eine gewisse Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit. Oftmals handelten Täter im Alleingang, ohne zuvor einer bestimmten Terrororganisation angehört zu haben. Auch spielt das Internet bei der Täterradikalisierung eine wichtige Rolle.

HSS: Islamismus gilt als Überbegriff für viele unterschiedliche Strömungen wie beispielsweise den Salafismus. Gibt es Kernelemente des Islamismus, die sich als Gemeinsamkeiten dieser Strömungen herausstellen lassen, um den Islamismus klar von der Religion des Islam in seinen facettenreichen Ausprägungen abzugrenzen?

Unter Islamismus ist eine vom Islam zu unterscheidende, sich auf die Religion des Islam berufende Form des politischen Extremismus zu verstehen. Der Islamismus beschreibt eine politische Weltanschauung, die die Sprache der Religion nutzt, um politische Ziele zu verfolgen. Islamismus beginnt dort, wo religiöse islamische Gebote und Normen als verbindliche politische Handlungsanweisungen mit Absolutheit und Ausschließlichkeitsanspruch gegenüber anderen gesellschaftlichen Modellen gedeutet werden. Islamisten nehmen für sich in Anspruch, den einzig „wahren“ Islam zu vertreten und wollen ihre Auslegung als verbindliche Richtschnur für Staat und Gesellschaft verwirklichen. Muslimen mit anderem Islamverständnis werfen sie vor, diesen mit „unerlaubten Neuerungen“ verwässert zu haben. Dazu zählt in den Augen von Islamisten auch die Trennung von Staat und Religion. Der Islamismus erhebt daher einen universalen Herrschaftsanspruch und legitimiert zum Teil auch die Anwendung von Gewalt.

Islamismus ist ein Überbegriff für eine Vielzahl von unterschiedlichen Strömungen, wie beispielsweise den Salafismus. Diese Strömungen haben folgende ideologische Kernelemente des Islamismus gemein:

  1. „Der Islam“ ist nicht allein Glaube und Ethik, sondern begründet eine alles umfassende Lebensart, die auf Koran und Sunna (Überlieferung der Reden und Taten des Propheten) basiert.
  2. Die Scharia (hier als islamisches Gesetz definiert) stellt ein politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip dar.
  3. Koran und Sunna haben „Verfassungsrang“ und verbindliche Vorbildfunktion für politisches Handeln und einen zukünftigen „islamischen Staat“.

Diese extremistischen Ziele widersprechen den in unserem Grundgesetz garantierten Freiheits- und Menschenrechten. Deshalb gilt ohne Wenn und Aber: Die Bestrebungen von Islamisten sind verfassungs- und integrationsfeindlich. Gewaltbereite islamistische Terroristen verfolgen das Ziel, weltweit eine totalitäre islamistische Gesellschaftsordnung zu errichten. Sie berufen sich dabei auf die vermeintliche Pflicht aller Muslime, sich gegen westliche, also „ungläubige“ Einflüsse zu „verteidigen“, und rufen zur Teilnahme am bewaffneten Jihad auf.

HSS: Auch ein "legalistischer Islamismus" fordert laut aktuellem Bayerischem Verfassungsschutzbericht die freiheitliche Grundordnung heraus. Was genau versteht man unter "legalistischem Islamismus", worin besteht sein Bedrohungspotential und was können wir dagegen tun?

Bei islamistischen Bestrebungen in Deutschland gilt es grundsätzlich zwischen den verschiedenen Strömungen und deren Einstellung zur Gewalt zu unterscheiden. Während islamistische Terroristen den Einsatz von Gewalt propagieren, vertreten politische Salafisten sowie legalistische Organisationen eine weitgehend gewaltfreie Herangehensweise, um ihre Ziele zu erreichen.

Legalistische islamistische Gruppen wie die Milli-Görüs-Bewegung verfolgen ihre extremistischen Ziele mit politischen Mitteln innerhalb der bestehenden Rechtsordnung. Legalistische Islamisten bestehen auf einer strengen Lesart des Korans, der nach ihrer Auffassung unabhängig von Zeit und Ort für alle Menschen gültig ist. Die Weisungen, die im islamischen Recht, der Scharia, enthalten sind, sind für sie eine nicht relativierbare, moralische und rechtliche Richtschnur. Durch Lobbyarbeit versuchen legalistische Islamisten, Einfluss auf Entscheidungsprozesse in Politik und Gesellschaft zu nehmen. Dabei verfolgen sie eine Doppelstrategie: Während sie sich nach außen offen, tolerant und dialogbereit geben, bestehen innerhalb dieser Organisationen antidemokratische und totalitäre Tendenzen.

Ziel legalistischer Islamisten ist es, zunächst Teilbereiche der Gesellschaft zu manipulieren und zu ideologisieren. Langfristig streben sie die Umformung des demokratischen Rechtsstaats in einen islamistischen Staat an. Um dies zu erreichen, betreiben sie Kulturvereine und Moscheen, wo sie Mitglieder werben und ihre Ideologie verbreiten. Über ihre Dachverbände wie die genannte Milli-Görüs-Bewegung oder die in Deutschland existierenden Strukturen der „Muslimbruderschaft“ versuchen sie, sich dem Staat als Sprachrohr der Muslime anzubieten. Ein Großteil der ideologischen Grundsätze legalistischer islamistischer Organisationen ist unvereinbar mit unseren im Grundgesetz verankerten Prinzipien der Demokratie, des Rechtsstaats und einer auf der Menschenwürde basierenden politischen Ordnung, die zum Beispiel die Gleichberechtigung der Religionen und Geschlechter garantiert. Ein konfliktfreies Zusammenleben mit Andersdenkenden erscheint für legalistische Islamisten daher kaum möglich.

Die Bayerische Staatsregierung tritt seit jeher allen extremistischen Bestrebungen, unabhängig von ihrer konkreten Ausrichtung entschlossen entgegen – mit allen präventiven und repressiven Mitteln des Rechtsstaats. Auch wenn es um „legalistische Islamisten“ geht, spielen Aufklärung und Sensibilisierung eine wichtige Rolle.

Info: Das Bayerische Netzwerk für Prävention und Deradikalisierung gegen Salafismus

Radikalisierung zu verhindern ist sowohl eine staatliche als auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Mit dem „Bayerischen Netzwerk für Prävention und Deradikalisierung gegen Salafismus“ (Start Sommer 2015), an dem vier Ressorts beteiligt sind (Inneres, Justiz, Unterricht und Kultus, Soziales), soll der Radikalisierung junger Menschen entgegengewirkt werden. Das Netzwerk hat seit seiner Gründung über 35.000 Fachkräfte (vor allem Multiplikatoren), Angehörige und Betroffene im Rahmen von Vorträgen, Veranstaltungen, Fortbildungen und Beratungsleistungen erreicht. Unter www.antworten-auf-salafismus.de bietet das Netzwerk allen Interessierten und Betroffenen umfassende Informationen zum Thema Salafismus sowie vielfältige Beratungs-, Unterstützungs- und Förderangebote.

Das bayerische Angebot gegen Salafismus besteht aus zwei Säulen: Prävention und Deradikalisierung. Während Präventionsmaßnahmen anlassunabhängig und ohne konkreten Verdacht einer Radikalisierung angeboten und durchgeführt werden, erfolgen Deradikalisierungsmaßnahmen anlass- und personenbezogen im Falle eines vorliegenden Radikalisierungsprozesses bzw. einer bereits erfolgten Radikalisierung.

Das Netzwerk kooperiert sowohl im Bereich der Prävention als auch im Bereich der Deradikalisierung mit zivilgesellschaftlichen Trägern:

Im Bereich der Prävention arbeitet das Bayerische Sozialministerium mit dem zivilgesellschaftlichen Träger ufuq.de zusammen, dessen landesweite Fachstelle zur Prävention von religiös begründeter Radikalisierung vielfältige Maßnahmen im Bereich der Prävention anbietet.

Im Bereich der Deradikalisierung wurde im Jahr 2016 mit der Beratungsstelle Bayern des zivilgesellschaftlichen Trägers Violence Prevention Network e.V. (VPN) ein Beratungs- und Betreuungsangebot für Betroffene und Angehörige sowie eine Ausstiegsbegleitung geschaffen. Staatlicher Ansprech- und Vertragspartner für VPN in Bayern ist das im Bayerischen Landeskriminalamt angesiedelte Kompetenzzentrum für Deradikalisierung (KomZ).

Dynamisch wirkender Mann im sportlich geschnittenen Anzug.

P.Hildmann

Dr. Philipp W. Hildmann, studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Evangelische Theologie und Mediävistik in Erlangen, Zürich und München. 2004 wurde er zum Dr. phil. promoviert. Nach Stationen als Wissenschaftlicher Mitarbeiter u.a. der Ernst-Troeltsch-Forschungsstelle der Universität München und der Unabhängigen Historischen Kommission zur Erforschung der Geschichte des Hauses Bertelsmann im Dritten Reich begann er 2004 seine Tätigkeit für die Hanns-Seidel-Stiftung: Zunächst als Referent für Werte, Normen und gesellschaftlichen Wandel in der Akademie für Politik und Zeitgeschehen, 2009 bis 2018 dann als Leiter des Vorstandsbüros, seit 2014 zugleich als Beauftragter für Interkulturellen Dialog. Anschließend leitete er die Stabsstelle Strategieentwicklung und Grundsatzfragen. Seit März 2020 ist er Leiter des neu gegründeten Kompetenzzentrums Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Interkultureller Dialog. U.a. ist er Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, der Bayerischen Landessynode und Stv. Landesvorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises der CSU. Zu seinen aktuellen Veröffentlichungen im Kontext der Hanns-Seidel-Stiftung zählen: Rechtspopulismus und Religion, Wiesbaden 2018 (hrsg. mit Oliver Hidalgo und Alexander Yendell); Was ist konservativ? Ein Plädoyer für Maß und Mitte, München 2018; Religion in der Schule. Zwischen individuellem Freiheitsrecht und staatlicher Neutralitätsverpflichtung, Tübingen 2018 (hrsg. mit A. Katarina Weilert).

HSS: Immer wieder erregen Fälle die öffentliche Aufmerksamkeit, in denen sich Frauen und Mädchen islamistisch radikalisieren. Sehen Sie eine wachsende Bedeutung der Frauen für die Stabilisierung der Szene, worin genau könnte diese liegen und gibt es im Gegenzug spezielle Präventionsprogramme gerade für diese Zielgruppe?

Nach islamistischer und salafistischer Ansicht sind Männer und Frauen vor Gott (und als dessen Schöpfung) zwar gleich viel wert, doch im täglichen Leben klaren Rollenbildern unterworfen. Salafisten verweisen auf Textstellen in Koran und Sunna, die in ihrer Lesart für das Zusammenleben eindeutige Regeln aufstellen. Männer und Frauen, so sagen sie, unterscheiden sich in ihrer körperlichen und geistigen Verfassung und müssen deshalb unterschiedliche Rollen in der Gesellschaft ausfüllen. Neben der strikten Geschlechtertrennung in allen Bereichen gilt die körperliche Züchtigung von Frauen als zulässig. Trotzdem engagieren sich auch junge Frauen für den Islamismus und den Salafismus. In Deutschland geht man von einem Frauenanteil von rund zehn Prozent innerhalb der salafistischen Szene aus. Salafistische Ehen werden unter anderem über Heiratsmärkte im Internet vermittelt.

Die Rolle der Frauen innerhalb der islamistischen und salafistischen Szene hat sich aber in den letzten Jahren gewandelt. Während früher ausschließlich ihre Rolle als Mutter, Ehefrau und Unterstützerin des Ehemanns betont wurde, traten Frauen in jüngerer Zeit mit organisatorischen Tätigkeiten hervor und leisteten logistische Unterstützung, insbesondere bei salafistischen Missionierungs- und Anwerbebestrebungen. Frauen sind auch in gewaltorientierten, jihadistischen Szenen aktiv. Sie werben und radikalisieren vor allem über Internet-Plattformen und Messenger-Dienste.

Es sind Fälle von Frauen bekannt, die in jihadistische Kriegsgebiete gereist sind, um dort ihre Männer zu unterstützen. Auch einige unverheiratete Frauen haben sich auf den Weg nach Syrien oder in den Irak gemacht. Im Internet berichten sie, durch die Versorgung der Mujahidin (Glaubenskrieger) vor Ort einen wichtigen Beitrag zum Jihad leisten zu können. Gelegentlich formulieren Frauen mittlerweile auch deutlicher den Wunsch, aktiv am Kampf teilzunehmen. So sind im Internet Propagandavideos mit Frauen in Kampfanzügen und mit Waffen zu sehen. Zwar werden Frauen in der jihadistischen Propaganda nur in Einzelfällen direkt dazu aufgefordert, Attentate zu begehen, jedoch werden sie von den Aufrufen zur Tatbegehung auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen.

Einige jihadistische Angebote in sozialen Medien richten sich gezielt an Mädchen und junge Frauen. Sie vermitteln die Botschaft, dass das weibliche Geschlecht für den Jihad genauso wichtig ist wie das männliche. Die Zielgruppe wird dort angesprochen, wo sie sich im Netz am häufigsten aufhält: in sozialen Medien wie Facebook und Instagram sowie über Messenger-Dienste. Die Erstansprache verläuft in der Regel niedrigschwellig, der Jihad-Bezug ist auf den ersten Blick meist nicht erkennbar. Durch Teilen und Liken können sich solche Inhalte im Netz verbreiten und damit auch in der Alltagskommunikation junger Internetnutzerinnen ankommen.

Obwohl die Radikalisierungsgründe von Jungen und Mädchen in der Regel ähnlich sind, kann es in der Präventionsarbeit auch wichtig sein, Gender-Aspekte zu berücksichtigen. Das „Bayerische Netzwerk für Prävention und Deradikalisierung gegen Salafismus“ hat deswegen spezielle Angebote geschaffen. Es werden radikalisierungsrelevante Themen aus beiden Geschlechterperspektiven betrachtet, und über Rollen-Stereotype aufgeklärt. So werden besonders das Selbstbewusstsein und die innere Stabilität junger Frauen gestärkt.

Es gibt eine ganze Reihe von Angeboten. Konzeptionelles Kernelement des Projekts MotherSchools ist beispielsweise die Arbeit mit Müttern von Jugendlichen zwischen elf und 28 Jahren. Sie werden unter anderem für erste Anzeichen einer möglichen Radikalisierung ihrer Kinder sensibilisiert und darin geschult, wie sie mit ihren Kindern auch zu Beginn einer Radikalisierung im Gespräch bleiben können.

Im Projekt „ReThink – Freiheit beginnt im Kopf“ werden Jugendliche mit Migrations- oder Fluchterfahrung theaterpädagogisch dazu angeregt, unter anderem patriarchale Strukturen zu hinterfragen. Dabei werden auch kulturell geprägte Männlichkeitsvorstellungen und Beziehungsthemen offen thematisiert. Rollenstereotype können nur gemeinsam von Frauen und Männern hinterfragt und aufgebrochen werden.

Neben der landesweiten Projektarbeit setzen auch die Kommunalen Präventionsnetzwerke in Bayern inen bedarfsorientierten Schwerpunkt auf genderspezifische Arbeit vor Ort.

HSS: Sehen Sie den Freistaat Bayern mit seinen Aktionen und Präventionsangeboten inzwischen ausreichend aufgestellt? Wie steht es in diesem Bereich mit der Unterstützung durch Moscheegemeinden, islamische Verbände und Vereine - und welchen Beitrag würden Sie sich von einer Einrichtung der politischen Bildung wie der Hanns-Seidel-Stiftung wünschen?

Grundsätzlich zielen all unsere Präventionsmaßnahmen darauf ab, Menschen stark und im besten Fall immun gegen extremistische Botschaften zu machen. Sie sollen die Gefahr verringern, dass sich Menschen extremistischen Ideologien zuwenden und womöglich sich selbst oder andere gefährden. Die Vorbeugung oder Prävention ist daher ein wichtiger Bestandteil des Kampfes gegen extremistische Strömungen wie den Salafismus.

Präventionsarbeit wird an vielen Orten geleistet: in Familien und Schulen, in der Kinder- und Jugendhilfe, in Einrichtungen der politischen Bildung und in Gemeinden. Dabei werden Jugendliche oft spielerisch etwa in Workshops, Rollenspielen oder Theaterprojekten zur Auseinandersetzung angeregt: mit ihrem Selbstbild, ihren Einstellungen, ihren Werten und Weltbild sowie ihrem Verständnis von Demokratie. Dies stößt Entwicklungsprozesse an und stärkt Jugendliche in ihrem Selbstbewusstsein, denn: wer in sich ruht, ist weniger anfällig für Propaganda und Einflussnahme zum Beispiel durch Salafisten.

Im Idealfall ist Prävention möglichst zielgerichtet, etwa bei Jugendlichen, die besonders gefährdet sind – wenn sie etwa in Schule und Familie etwas belastet oder sie einschneidende persönliche Erfahrungen machen mussten. Deshalb unterstützt die spezifische Prävention auch Lehrkräfte, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter oder die Jugendsozialarbeit an Schulen mit Beratungs- und Fortbildungsangeboten. Sie sollen Anzeichen für eine Radikalisierung frühzeitig erkennen und gegensteuern können.

Wer bin ich? Wer will ich sein? Was ist gut und richtig, was ist falsch? Welche Werte sind die wahren? Auf der Suche nach der eigenen Identität setzen sich Jugendliche oft auch sehr provozierend mit ihren Eltern, mit Lehrkräften, mit der staatlichen Autorität auseinander. Sie wollen ihre Umwelt und die Welt an sich verstehen, oft auch zum Besseren verändern. Aber: Was ist das Bessere? Während Jugendliche nach Orientierung suchen, sind sie sehr offen für Antworten und Erklärungen – aber auch für Ideologien. Hier setzen die Salafisten an – und genau deshalb muss hier auch die Prävention anknüpfen. Die Fachstelle zur Prävention von religiös begründeter Radikalisierung Bayern (Ufuq) www.ufuq.de hat praktische Infos, Tipps und Handreichungen für Schule und Jugendarbeit entwickelt. Dazu gehört auch das „Rezept für alle Fälle“. Das können zum Beispiel Lehrkräfte immer anwenden, wenn sie nicht sicher sind, ob ein Jugendlicher legitimen Protest ausdrücken, gezielt provozieren oder ideologisierte Propaganda verbreiten will.

In der Prävention spielt die Arbeit auf kommunaler Ebene eine besondere Rolle. Denn Radikalisierung passiert vor Ort. Daher muss auch die Prävention dort ansetzen, wo Jugendliche Gefahr laufen, sich zu radikalisieren. In Städten und Gemeinden kann man viele wichtige Akteure und Akteurinnen erreichen, gewinnen und vernetzen, Schulen, Sozial- und Jugendarbeit, Polizei, Politik, und alle, die das Thema berührt. Die kommunale Ebene spielt also eine zentrale Rolle in der Koordinierung von Präventionsmaßnahmen sowie in der Vernetzung relevanter Akteure und Akteurinnen. Das betrifft im Übrigen auch die Zusammenarbeit und Vernetzung mit Moscheegemeinden und muslimischen Verbänden vor Ort. In Bayern fördern wir derzeit solche beispielhaften kommunalen Präventionsnetzwerke in Würzburg, Nürnberg und Augsburg.

Im Bereich der Prävention gegen religiös begründete Radikalisierung sind natürlich auch Einrichtungen der politischen Bildung, wie die Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) wichtige Kooperations-/Netzwerkpartner und bedeutsame Impulsgeber. Sie bieten nicht nur regelmäßige Plattformen und Podien für den unverzichtbaren Experten- und Praktikeraustausch, sondern auch für den notwendigen wissenschaftlichen Diskurs, der die Basis für die Weiterentwicklung unserer am Bedarf und der Praxis orientierten Projekte ist.

HSS: Wir danken Ihnen für das Gespräch!

Autoren: Dr. Philipp W. Hildmann und Kerstin Neuhaus, HSS

Die Fragen wurden von Bayerns Innen- und Sozialministerium als Mitglieder  der für das Bayerische Netzwerk für Prävention und Deradikalisierung gegen Salafismus zuständigen Interministeriellen Arbeitsgruppe  beantwortet.