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Auftaktrunde „Herausforderungen im Desinformationszeitalter“
„Es gibt kein Patentrezept“

Nicht nur die Corona-Pandemie stellt Deutschland und Europa derzeit vor schwere Herausforderungen. Auch die Menge an gezielt gestreuten Desinformationen nahm im Zuge der Krise rasant zu. Im Rahmen einer neuen Projektreihe widmet sich die Hanns-Seidel-Stiftung daher den „Herausforderungen im Desinformationszeitalter“, um praxisrelevante Lösungen im Umgang mit gezielten Falschinformationen zu entwickeln.

Gezielt falsche Informationen streuen ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Schon immer war Desinformation ein Mittel in Konflikten und gängige Praxis politischer Akteure. Heutzutage findet die Auseinandersetzung im Informationsraum allerdings unter anderen Vorzeichen statt – mittels digitaler Desinformationskampagnen. Diese Kampagnen sind Teil übergeordneter Strategien und zielen darauf ab, gesellschaftliches Vertrauen in staatliche Institutionen zu untergraben und soziale Spannungen zu verschärfen. Hierfür setzen sie gezielt an gesellschaftlichen Konfliktlinien an. Das bewusste Streuen von falschen und irreführenden Informationen dient also einem bestimmten Zweck und unterscheidet sich von fahrlässig geteilten Informationen (sog. „Missinformationen“), deren Wahrheitsgehalt nicht überprüft wurde.

Eine Weltkarte mit der großen Überschrift "FAKE NEWS"

Die Pandemie, die mit ihr verbundene Verunsicherung und die Flut an Informationen bietet einen optimalen Nährboden für Russland, China und weitere Staaten, um gezielt Desinformationen zu streuen.

asiandelight; HSS; IStock

Durch den technologischen Fortschritt und die Veränderungen in der Medienlandschaft werden Desinformationen heutzutage schnell verbreitet und erzielen oft in kürzester Zeit eine große Reichweite. Und das ist das Neue im alten Kampf um die Wahrheit: Das Geschäftsmodell von sozialen Medien basiert auf Emotionalisierung, die ihrerseits wieder Aufmerksamkeit anderer User generiert. Dadurch erhöht sich die Sichtbarkeit, wodurch dem Inhalt erst vermeintliche Relevanz verliehen wird. Das immer noch reißerische Verschwörungsnarrativ verkauft sich in der Aufmerksamkeitsökonomie der Plattformen immer besser als wissenschaftliche Fakten. Expertinnen und Experten sprechen daher auch von „Radikalisierungsmaschinen“, die zur Diskursverschiebung in unseren Gesellschaften wesentlich beitragen.

Desinformation hat viele Urheber

Für Europa gerieten Desinformationskampagnen als Mittel hybrider Kriegsführung 2014 im Rahmen der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland und des seither andauernden Konflikts in der Ukraine verstärkt in den Fokus, später auch im Zuge der Präsidentschaftswahlen in den USA 2016 und in Frankreich 2017. Doch nicht immer steckt ein internationaler Akteur dahinter. Auch politische Gruppierungen und Einzelpersonen innerhalb Deutschlands setzen absichtsvoll und gezielt auf Desinformation und beflügeln so ihre Verschwörungstheorien.

Das Informationszeitalter droht, zu einem „Desinformationszeitalter“ zu werden. Staaten und Zivilgesellschaften tun sich schwer damit, erfolgsversprechenden Lösungsansätze zu finden. Das wird auch in der Corona-Krise deutlich: Gegenwärtig bieten die Pandemie, die damit verbundene Verunsicherung und die Flut an Informationen einen optimalen Nährboden für Akteure aus Russland, China und weiteren Staaten, um gezielt Desinformationen zu streuen. Die Europäische Union und deutsche Sicherheitsbehörden beobachten mit Sorge den Anstieg an Desinformationen, die auf unterschiedlichen Kanälen und in unterschiedlichen Sprachen in Umlauf gebracht und verbreitet werden. Trotz länderspezifischer Unterschiede vereint sie ein gemeinsames, übergeordnetes Narrativ: Die demokratisch verfassten Staaten des „Westens“ sind nicht in der Lage, die Corona-Pandemie zu bewältigen, während hingegen alternative (autoritäre) Systeme wesentlich besser und erfolgreicher diese Krise meistern.

Die Frage der Attribution, also der Frage wer hinter den gezielten Desinformationskampagnen steckt, stellt eine der größten Herausforderungen dar. Nur selten gelingt die Aufdeckung einer Trollfabrik und die direkte Zuschreibung zu einem staatlichen Akteur. Wie vielschichtig die Probleme der Attribution sind, verdeutlicht auch die Gemengelage der Verschwörungsnarrative zur Corona-Pandemie: Impfgegner, „Aluhüte“ und Rechtsradikale verbreiten Desinformationen, gespickt mit Vorurteilen und Feindbildern, und befeuern so Verschwörungstheorien, die sich gegen den Staat und das Establishment richten.

Projektreihe „Herausforderungen im Desinformationszeitalter“

Mit der abteilungsübergreifenden Projektreihe „Herausforderungen im Desinformationszeitalter“ möchte die Hanns-Seidel-Stiftung einen Beitrag zum Umgang mit Desinformationen leisten. Ziel ist es, das komplexe Thema „Desinformation“ in all seinen Facetten zu beleuchten und in Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten sowie mit Praktikern, die in ihrer täglichen Arbeit mit Desinformation konfrontiert sind, praxisrelevante und lösungsorientierte Ansätze zu entwickeln. Verantwortlich für diese Projektreihe sind einerseits das Hauptstadtbüro der HSS unter der Leitung von Dr. Alexander Wolf, Maximilian Rückert, Referatsleiter Digitalisierung, Politik, Künstliche Intelligenz und Andrea Rotter, Referatsleiterin Außen- und Sicherheitspolitik.

Wie sollen wir in Deutschland und in Europa auf diese Entwicklungen reagieren? Welchen Beitrag können Regierungen, Zivilgesellschaft und Anbieter von Plattformen wie Facebook, Twitter oder YouTube leisten, um den Herausforderungen im Desinformationszeitalter gewachsen zu sein? Um diese und weitere Fragen aufzugreifen, hat die Hanns-Seidel-Stiftung daher eine neue Projektreihe ins Leben gerufen. Zum Auftakt widmete sich eine Expertenrunde dem Thema „Desinformation in Zeiten von Corona“, an der Vertreterinnen und Vertreter des Deutschen Bundestags, der Europäischen Union, des Auswärtigen Amts, des Bundespresseamts, der Bundesministerien des Innern und der Verteidigung sowie verschiedener Forschungseinrichtungen teilnahmen. Es wurde ersichtlich, dass es kein „Patentrezept“ für den Umgang mit Desinformation gibt, es aber in jedem Fall einer engen Zusammenarbeit zwischen internationalen Partnern wie EU oder NATO, Regierungen und privaten Akteuren wie Plattformanbietern sowie der Zivilgesellschaft bedarf. Allein die Identifikation von gezielter Desinformation setzt einen komplizierten Prozess voraus, der den Urheber und den Inhalt der Information ebenso berücksichtigen muss wie die Umsetzung und die dahinterstehende Intention. Es reicht also nicht, eine falsche Information nur zu identifizieren, sondern sie muss in einen größeren Kontext eingebettet werden: Von wem stammt diese Information? Ist der Verfasser bereits in der Vergangenheit wegen gezielter Desinformation aufgefallen? Wie verhält er sich in den sozialen Medien? Wie und durch wen verbreitet sich diese Falschinformation – z.B. über Netzwerke, die bereits im Zusammenhang mit Desinformation bekannt sind? All diese Schritte sind notwendig, um Desinformation von fahrlässig geteilter Missinformation und bloßer Meinungsäußerung zu unterscheiden, die im Zuge der Meinungsfreiheit unangetastet bleiben muss.

Ein akutes Problem, das langfristige Lösungen braucht

Dies setzt zum einen eine terminologische Trennschärfe voraus, zum anderen die Einbindung aller relevanten Akteure, darunter verantwortliche Ministerien und Behörden, Forschungseinrichtungen, Medien, Plattformanbieter, NGOs, Vertreter der Zivilgesellschaft – und das national wie international.  Überdies reicht es nicht aus, auf Desinformation lediglich zu reagieren oder sie zu „debunken“, also Desinformation als solche zu kennzeichnen und zu korrigieren. Stattdessen müssen wir uns darum bemühen, die Angriffsfläche für derartige Kampagnen zu verringern. Hierfür bedarf es einer proaktiven Kommunikationsstrategie der Regierung, die von Beginn an bei politischen Entscheidungen mitgedacht wird und darauf abzielt, Transparenz zu generieren, die Zivilgesellschaft über die Herausforderungen durch Desinformation aufzuklären und diesen Kampagnen selbstbewusst ein eigenes Narrativ entgegen zu stellen. Gleichzeitig gilt es langfristig Bürgerinnen und Bürger aller Altersklassen im Erkennen und Umgang mit Desinformationen zu schulen und innergesellschaftliche Konfliktlinien zu entschärfen. Hierbei zeigt sich auch die Komplexität im Kampf gegen Desinformation: Viele Lösungsansätze brauchen schlichtweg Zeit, bis sie ihre Wirkung entfalten können. Doch die Herausforderung ist schon heute akut, so dass es einer erfolgreichen Mischung von kurzfristigen und langfristigen Maßnahmen bedarf.

Außen- und Sicherheitspolitik
Andrea Rotter, M.A.
Leiterin