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Griechischer Minister Koumoutsakos zum griechisch - türkischen Verhältnis
Europa lässt sich nicht erpressen

Der Flüchtlingspakt mit der Türkei darf nicht aufgegeben werden. Er sei das einzige wirksame Instrument, dass Europa momentan gegen die Migrationskrise habe, sagt der griechische Vizeminister für Migration & Asyl, Georgios Koumoutsakos im HSS-Interview.

HSS: Wie ist die gegenwärtige Situation an der griechisch-türkischen Grenze? Wie beurteilen Sie die Haltung der Türkei?

Georgios Koumoutsakos: Seit einem Monat ist Europa an der griechisch-türkischen Grenze in Evros mit einer gezielten Erpressungspolitik konfrontiert. Ankara drängte absichtlich verzweifelte Menschen, die Grenzen eines Nachbarlandes massiv zu verletzen. Die Türkei ignorierte dabei völlig, dass damit die Sicherheit dieser Menschen gefährdet wurde. Griechenland hatte keine andere Wahl, als die griechischen und damit auch die europäischen Grenzen zu schützen. Griechenland war verpflichtet, wie es jedes Land tun würde, gegenüber dieser Erpressung energisch zu reagieren. Die Unterstützung, die wir vom ersten Augenblick an sowohl von den europäischen Institutionen als auch von Mitgliedstaaten erhalten haben, hat unsere Entschlossenheit gestärkt.

Wir hatten jedoch nicht nur mit dieser Situation zu kämpfen. Gleichzeitig mussten wir auf der Ebene der öffentlichen Diplomatie eine vom türkischen Staatsapparat gut organisierte ‚Fake News‘ und Propaganda-Kampagne abwehren. Dies geschieht vor dem Hintergrund tausender Journalisten, die in der Türkei inhaftiert sind.

Der Versuch der Türkei, Europa mittels Griechenlands zu erpressen, ist fehlgeschlagen. Heute hat sich die Lage verändert. Es gibt mittlerweile eine Entspannung. Ich wünsche mir, dass dies so bleibt. Dennoch befürchte ich, dass die Türkei diese Erpressungsstrategie nicht aufgegeben hat.

Ein stämmiger Mann im guten Anzug am Rednerpult vor zwei Mikros. Milde, überzeugend.

Georgios Koumoutsakos ist Vizeminister für Migration und Asylpolitik in der amtierenden Regierung von Kyriakos Mitsotakis. Er ist Mitglied des griechischen Parlaments, gewählt für die EVP-Partnerpartei "Nea Demokratia". Im Januar 2015 wurde er zum ersten Mal als Abgeordneter gewählt und im September 2015 und Juli 2019 wiedergewählt. Von November 2016 bis Juli 2019 war er Schattenaußenminister. Von 2009 bis 2014 war er Mitglied des Europäischen Parlaments.

Nea Demokratia; https://gkoumoutsakos.gr/photos/

HSS: Was macht Sie so vorsichtig? Ist es möglich, dass Sie übertreiben?

Ich gebe zu, dass ich mich täuschen möchte. Ich glaube an die Notwendigkeit eines aufrichtigen Dialogs zwischen Europa und der Türkei. Dieser muss auf internationalem Recht und gegenseitigem Respekt beruhen. Aber die zuletzt gemachten Erklärungen des türkischen Innenministers Soylu erfordern ständige Wachsamkeit.

Herr Soylu sagte, sobald die Pandemie des Coronavirus vorbei sei, würden tausende Migranten an die Grenzen zurückkehren, um erneut zu versuchen, nach Europa zu gelangen. Unterschätzen Sie nicht die Erklärungen der türkischen Führung. Ich sage dies, weil es in Nordeuropa oft zu Fehleinschätzungen über die türkische Politik kommt.

Monatelang habe ich meinen europäischen und deutschen Gesprächspartnern gesagt, dass Bemerkungen über die "Öffnung der Tore" ernst genommen werden müssen. Manchmal hatte ich dabei den Eindruck, dass man diese Drohungen der Türkei nicht ernst nahm und nicht als glaubwürdig betrachtete.

Ich bedauere es, dass ich Recht behielt. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die Türkei Millionen von Flüchtlingen aufgenommen hat. Ich anerkenne ohne Vorbehalte, dass die Türkei eine schwere Last auf sich genommen hat und von Europa unterstützt werden muss, um diese schwierige Situation bewältigen zu können. Diese Tatsache kann jedoch kein Alibi für eine Erpressungspolitik sein. Europa kann keine Entscheidungen unter Bedingungen einer Erpressung durch einen anderen Staat treffen. Europa lässt sich nicht erpressen. Die Außengrenzen eines Nachbarstaates dürfen nicht in Frage gestellt werden.

HSS: Glauben Sie, dass der Flüchtlingspakt von 2016 noch ‚am Leben‘ ist?

Nach den Ereignissen in Evros ist nichts mehr wie zuvor. Durch die Politik der Türkei erlitt die Vereinbarung von 2016 eine tödliche Verletzung. Ihre Rettung, ihre Stärkung gar, sind absolut notwendig. Sie ist das einzige funktionierende Instrument, das wir zur Bewältigung der Migrationskrise in der Hand halten.

Ich erinnere Sie daran, dass das Rückführungsabkommen von 2014 zwischen der Türkei und der EU nicht umgesetzt wird. Ein ähnliches bilaterales Abkommen zwischen Griechenland und der Türkei, welches seit 2001 existiert, wird wegen Ankara ebenso nicht umgesetzt.

Die Vereinbarung von 2016 kann nur gerettet und sogar verbessert werden, wenn die Türkei beschließt, die Lage, welche sie in Evros zu verantworten hat, zu entspannen. Mit anderen Worten, die Respektierung der griechischen und europäischen Grenzen.

HSS: Welche Änderungen am Flüchtlingspakt verlangt Griechenland?

Ich erwähne drei Änderungen, welche unserer Ansicht nach dazu beitragen können, die Vereinbarung handlungsfähiger zu machen:

Erstens sollte jedwede neue europäische Finanzierung zugunsten der Türkei an die Wirksamkeit der Umsetzung der Erklärung gebunden sein. Dies kann zusätzliche finanzielle Unterstützung bedeuten, etwa für eine wirksamen Kontrolle der Grenzen und einem nachprüfbaren Rückgang der Flüchtlingszahlen.

Zweitens muss Frontex in die Lage versetzt werden, gemeinsame Patrouillen mit den jeweiligen türkischen Behörden durchzuführen, das heißt, Land- und Seeabschnitte entlang der türkischen Küste zu überwachen.

Drittens sollte die Rückkehr von Migranten aus Griechenland in die Türkei, nicht ausschließlich über die Inseln, sondern ebenso über die Grenze von Evros und das Festland erfolgen. Eine solche geografische Beschränkung, die gegenwärtig existiert, ist im Text der Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei nicht vorgesehen. Es handelt sich dabei um eine politische Interpretation, die von der linken Vorgängerregierung unter Syriza akzeptiert wurde.

HSS: Griechenland wurde wegen der zeitweiligen Aussetzung von Asylanträgen heftig kritisiert. Was sagen Sie dazu?

Was wir dagegen als Botschaft von unseren Partnern und Verbündeten hören, ist ein klares „Dankeschön. Wir bedanken uns für euren Einsatz, die Grenzen zu schützen. Die Grenzen Europas.“ Das sagen sie uns. Darüber hinaus ist diese Aussetzung von Asylanträgen, die nur für maximal einen Monat gelten soll, eine schwierige und außergewöhnliche Entscheidung gewesen. Sie wurde aufgrund der außergewöhnlichen Herausforderung unserer nationalen Sicherheit getroffen, mit der wir konfrontiert waren.

Die Verteidigung der Grenzen ist die oberste Aufgabe und ein Grundrecht von souveränen Staaten, das sowohl im Völkerrecht und auch in unserer Verfassung verankert ist. Wie ich bereits sagte, hatten wir es an den Außengrenzen Europas nicht mit einer spontanen Einwanderungsbewegung zu tun. Vielmehr handelte es sich um eine von der Türkei gesteuerte Aktion. Menschen wurden absichtsvoll dazu benutzt, die EU zu erpressen, um geostrategische Ziele zu erreichen.

Dies ist auf internationaler Ebene entschieden zu verurteilen. Es handelt sich eben nicht nur um eine außergewöhnliche Maßnahme zum Selbstschutz eines demokratischen europäischen Landes. Schließlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vor einigen Tagen Griechenland nicht für seine Entscheidung verurteilt, ein juristisches Verfahren gegen das Land zu prüfen.

HSS: Angesichts der bevorstehenden Verhandlungen, welches sind die Positionen Griechenlands über ein gemeinsames europäisches Flüchtlings- und Asylabkommen?

Unter den heutigen Voraussetzungen wird die EU-Kommission ihre Vorschläge gegen Ostern vorlegen. Die Verhandlungen werden schwierig und komplex sein. Wir werden bestens vorbereitet sein und werden weiterhin konstruktiv in dieser Angelegenheit mitwirken. Wir werden gut ausgearbeitete Standpunkte vertreten und konstruktive Vorschläge vorlegen.

Diese beruhen auf zwei Grundprinzipien. Erstens auf einer gerechten Verteilung der Verantwortung, und zweitens auf einer wirksamen und substanziellen Solidarität. Zusammen mit anderen direkt betroffenen Ländern wie Spanien, Italien, Malta und Zypern setzen wir uns für die notwendige Verteilung in allen europäischen Ländern ein. Es ist unmöglich, dass die direkt betroffenen Länder, die an instabile Regionen grenzen, in denen wiederholt Krisen ausgelöst werden, alleine die Last der Migration tragen sollen.

Wir begrüßen ausdrücklich die Initiative einiger Länder, aus der Risikogruppe unbegleiteter Minderjähriger eine nennenswerte Anzahl von Kindern aufzunehmen. Zahlreiche Länder, allen voran Deutschland, haben bereits angekündigt, insgesamt mehr als 1.500 Minderjährige aufzunehmen. Wir bemühen uns, und haben diesbezüglich sogar konkrete Vorschläge unterbreitet, für die Errichtung eines wirkungsvollen europäischen Mechanismus für die Rückführung in Drittländer. Ebenso machen wir Vorschläge für eine wirksame europäische Politik zur Bekämpfung von Schleppernetzwerken. Die Grundsätze der Verteilung und der Solidarität müssen Eckpfeiler jeglichen Abkommens über Einwanderung und Asylgewährung in Europa sein. Ein solches Abkommen braucht Europa mehr denn je. Die Herausforderung ist eine gemeinsame und die Antwort darauf muss ebenso eine gemeinsame sein.

Zum Abschluss möchte ich meine Anerkennung und Dankbarkeit für die hervorragende Zusammenarbeit zum Ausdruck bringen, welche ich in dieser Zeit mit Deutschland habe. Dies gilt sowohl auf der Regierungsebene, insbesondere mit meinem Freund, Minister Horst Seehofer, als auch mit den zuständigen Beamten im Bundeskanzleramt.

Sehr geehrter Herr Minister, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch führte Jenny Kapellou, Leiterin des HSS-Auslandsbüros in Athen

Mitteleuropa, Osteuropa, Russland
N.N.
Leitung