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Interview mit Prof. Dr. Giovanni Orsina
Die aktuelle politische Situation in Italien

Autor: Dr. Thomas Leeb

In Italien regiert eine Koalition aus zwei populistischen Parteien, der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega. Über die politische Situation des viertgrößten EU-Mitgliedslandes interviewten wir den renommierten italienischen Historiker Prof. Giovanni Orsina. Er war Diskussionspartner einer gemeinsamen Veranstaltung des Martens-Center für Europäische Studien und des Europa-Büro Brüssel der HSS am 16. Juli 2019.

Giovanni Orsina (rechts im Bild), geboren 1967, lehrt als Professor für Zeitgeschichte an der Libera Università Internazionale degli Studi Sociali Guido Carli (LUISS) in Rom. Er ist einer der bekanntesten Populismusforscher Italiens. Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit ist die Geschichte von Parteien und europäischer politischer Systeme.

Giovanni Orsina (rechts im Bild), geboren 1967, lehrt als Professor für Zeitgeschichte an der Libera Università Internazionale degli Studi Sociali Guido Carli (LUISS) in Rom. Er ist einer der bekanntesten Populismusforscher Italiens. Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit ist die Geschichte von Parteien und europäischer politischer Systeme.

HSS

HSS: Was verstehen Sie unter dem Begriff „Populismus“?

Prof. Dr. Orsina: „Populismus“ wurde zu einer Art Sammelbegriff, der sehr vage und deshalb unbefriedigend ist. Ganz allgemein formuliert, signalisiert er einerseits eine Krise der traditionellen politischen Kräfte und, noch weiter gefasst, eine Krise der politischen Repräsentation. Andererseits signalisiert der Begriff die Entstehung neuer Parteien, die erstens behaupten, für das Volk zu sprechen, das als mehr oder weniger homogene Einheit konzipiert ist und zweitens darauf abzielen, das Volk besser in den öffentlichen Institutionen zu vertreten. Davon abgesehen gibt es ausgesprochen viele verschiedene Möglichkeiten, wie man ‚Volk‘ definiert und es vertritt. Dies bedeutet, dass sich viele Varianten des Populismus unterscheiden lassen und sie stark variieren können.

HSS: Die derzeitige Regierungskoalition Italiens aus Fünf-Sterne-Bewegung und Lega wird als populistisch bezeichnet. Sind sie die ersten politischen Kräfte in Italien, deren Popularität durch populistische Methoden zunahm und worauf ist dieser Erfolg zurückzuführen?

Die Krise der traditionellen politischen Kräfte sowie deren politische Repräsentation in Italien lässt sich zumindest bis in die 1970er-Jahre zurückverfolgen. Folglich gibt es populistische Tendenzen seit nun mehr als vierzig Jahren in Italien. Begünstigt wurde dies zudem durch die Justizskandale in den Jahren 1992 bis 1993, welche zu einem regelrechten ‚Verschwinden‘ der traditionellen Regierungsparteien geführt haben. Der sogenannte ‚Berlusconismus‘ beispielsweise enthielt ziemlich starke populistische Elemente. Als Gründe für den Erfolg der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega lassen sich mitunter auch die Krise der traditionellen Parteien und Institutionen ausmachen, daneben Emotionen gegen die Politik insgesamt, welche 1992/93 besonders aufkeimten, sowie die Wahrnehmung des Euro als Begrenzung des Wirtschaftswachstums und schlussendlich die Migrationskrise.

HSS: Es ist derzeit vor allem die Lega mit Matteo Salvini, für die die italienische Bevölkerung stimmt. Bei der Wahl zum Europäischen Parlament Ende Mai erzielte sie ein Ergebnis von 34,33%. Welche Erwartungen haben die Wähler an die Partei und wie ließe sich deren typisches Wählerprofil beschreiben?

Die italienische Politik ist geografisch geteilt: Menschen, die in Dörfern und kleineren Städten leben, wählen mit größerer Wahrscheinlichkeit Lega als diejenigen, die in Großstädten wohnen. Abgesehen davon gelingt es der Lega, Wählerstimmen aller sozialen Schichten auf sich zu vereinen. Lega-Wähler erwarten in erster Linie, beschützt zu werden: in ihrer alltäglichen persönlichen Sicherheit, vor unerwünschter, übermäßiger Migration und in Verhandlungen auf EU-Ebene. Der Brexit-Slogan ‚Lasst uns die Kontrolle zurückerobern!‘ gilt auch für Wähler der Lega. Auch sie möchten weniger Steuern zahlen, doch ahnen nicht, dass dies schwererer zu erreichen ist, als gedacht.   

HSS: Berlusconis Partei Forza Italia verliert seit Jahren kontinuierlich an Boden. Für den ehemaligen Ministerpräsidenten scheint es keinen Nachfolger zu geben, der die Partei wieder auf Erfolgskurs bringen kann. Wie könnte die Zukunft des politischen Mitte-rechts-Spektrums aussehen?

Wenn sich die Dinge nicht ändern, scheint das Schicksal von Mitte-rechts in Italien darin zu bestehen, als Juniorpartner mit der Lega zu kooperieren. Viele Jahre lang wollte Berlusconi seine Nachfolge nicht ernsthaft angehen, und schließlich wurde nun der Nachfolger von seinen Wählern bestimmt: Salvini. Dennoch: Die italienische Politik ist sehr dynamisch, und Dinge ändern sich schnell. Wenn Salvini seine Macht nicht konsolidiert, könnte sich bald wieder Platz für eine Mitte-rechts-Partei auftun.

HSS: Medienberichten zufolge soll ein Vertrauter Salvinis mit Vertretern des Kremls über ein besonderes Ölgeschäft verhandelt haben, das der Lega finanziellen Gewinn von 65 Millionen Euro zusichern würde. Welche Konsequenzen für die Popularität der Lega und Salvinis könnten sich aus diesen Anschuldigungen ableiten lassen?

Bisher bleibt diese Geschichte sehr vage. Ich persönlich glaube, dass negative Folgen für seine Popularität ausbleiben – es sei denn, andere und fundierte Informationen kämen ans Licht. Was uns all dies jedoch zeigt, ist, dass Salvini bisher noch keinen festen Kurs in der Außenpolitik eingeschlagen hat und ihm dies noch politisch schaden könnte.

HSS: Welche Prioritäten setzt die Lega in außenpolitischen Angelegenheiten, insbesondere angesichts ihrer wiederholten Sympathiebekundungen gegenüber der Russischen Föderation und ihrem Präsidenten Vladimir Putin?

Wie ich bereits sagte, eine Schwerpunktsetzung der Lega ist bisher noch nicht zu erkennen, ihre Außenpolitik bleibt weiterhin recht vage. Ich denke, Salvini wird sich diesbezüglich bald entscheiden müssen, und er wird sich für den Westen entscheiden.

HSS: Italien galt bislang immer als Vorreiter bei der EU-Freundlichkeit. Trifft dies immer noch zu? Was erwarten Italiener von Brüssel und einem Hauptpartner wie Deutschland?

Nein, das ist nicht mehr der Fall: Italien hat sich zu einem eher EU-skeptischem Land entwickelt. Italiener möchten sowohl von Brüssel als auch einzelnen europäischen Ländern stärker in der Migrationsfrage unterstützt werden. Sie sind zudem der Meinung, dass sie viele wirtschaftliche Opfer erbracht haben und möchten nun, dass die EU (und Deutschland) ihrem Land hilft, wieder zu wirtschaftlicher Prosperität und Wachstum zu gelangen. Doch da die EU (und Deutschland) der Meinung ist, dass Italien hierfür noch mehr Opfer bringen oder zumindest gewisse Reformen durchführen müsste, die wiederum soziale Kosten verursachen, befinden wir uns in einer Sackgasse, aus der heraus es keinen einfachen Weg gibt.  

HSS: Herr Prof. Orsina, vielen Dank für das Gespräch.

Dr. Markus Ehm führte das Interview per Mail.

 

Belgien (Europa-Büro Brüssel)
Dr. Thomas Leeb
Leiter