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Die Visegrád-Gruppe
Vom Integrationsmotor zum europäischen Schreckgespenst?

Die Visegrád-Gruppe wird heute gerne als Block der EU-Skeptiker und Integrationsbremser bezeichnet. Doch die Gründe, die im Februar 1991 zu ihrer Gründung führten, waren völlig andere. Auch neigen viele Politiker und Medien zu einer Überschätzung oder einer Fehlinterpretation des Bündnisses. Welche Hintergründe führten zur Schaffung dieser mitteleuropäischen Allianz, wie hat sie sich in den letzten 30 Jahren entwickelt und wo liegen die Möglichkeiten und die Grenzen der Visegrád-Gruppe?

 

  • Die Historie
  • Die Visegrád-Gruppe gestern und heute
  • Der Wille der vier Mitgliedsländer entscheidet
  • Ausblick
Seit 30 Jahren besteht das Visegrád-Bündnis. Das ist ein Anlass, den Werdegang und die Bedeutung der Allianz zu würdigen. So trafen sich zum Jubiläum der Präsident der Republik Polen, Andrzej Duda, der Präsident der Tschechischen Republik, Milos Zeman, die Präsidentin der Slowakei, Zuzana Caputová, und der Präsident der Republik Ungarn, János Àder.

Seit 30 Jahren besteht das Visegrád-Bündnis. Das ist ein Anlass, den Werdegang und die Bedeutung der Allianz zu würdigen. So trafen sich zum Jubiläum der Präsident der Republik Polen, Andrzej Duda, der Präsident der Tschechischen Republik, Milos Zeman, die Präsidentin der Slowakei, Zuzana Caputová, und der Präsident der Republik Ungarn, János Àder.

PeterHermesFurian; HSS; iStock

Ein Dreieck mit vier Ecken – die Historie

Am 15. Februar 1991 trafen sich die Staatsoberhäupter von Polen, der damaligen Tschechoslowakei und von Ungarn in dem beschaulichen ungarischen Donau-Städtchen Visegrád nahe der Grenze zur Tschechoslowakei. Der Ort an sich war ein Symbol für das Treffen: Im 14. Jahrhundert trafen sich an gleicher Stelle die Könige von Böhmen, Ungarn und Polen zu Verhandlungen, als deren Ergebnis eine regionale Kooperation stand.

Ähnlich wollten es knapp 650 Jahre später Lech Wałęsa (Präsident von Polen), Václav Havel (Präsident der Tschechoslowakei) und József Antall (Ministerpräsident Ungarns) halten, als sie das „Visegrád-Dreieck“ ins Leben riefen. Die drei Politiker, die maßgeblichen Einfluss auf den Freiheitskampf ihrer Länder in den Jahren 1989/90 genommen hatten, wollten ihre jungen demokratischen Staaten enger miteinander verflechten und gleichzeitig die europäische Integration ihrer Länder gemeinsam vorantreiben.

Schon zwei Jahre später, 1993, wurde aus dem zunächst „Visegrád-Dreieck“ genannten Zusammenschluss ein „Viereck“ bzw. die heutige „Visegrád-Gruppe“ oder „V4“. Die Trennung der Tschechoslowakei in zwei souveräne Staaten, Tschechien und Slowakei, führte somit zur bisher einzigen „Erweiterung“ der Visegrád-Länder.

Mitte Februar 2021 trafen sich nunmehr die aktuellen vier Staatsoberhäupter der Visegrád-Länder (Andrzej Duda für Polen, Milos Zeman für Tschechien, Zuzana Caputová für die Slowakei und János Àder für Ungarn) auf der polnischen Halbinsel Hel, um der Gründung der Allianz zu gedenken und die Zusammenarbeit zu würdigen.

Die Visegrád-Gruppe gestern und heute

Konkret bezweckten die Gründerväter Antall, Havel und Wałęsa mit der Schaffung des „Visegrád-Dreiecks“ dreierlei:

  1. Die Sicherung von guten, engen und freundschaftlichen Beziehungen in Mitteleuropa.
  2. Die Integration der drei Länder in das gemeinsame europäische Haus, sprich in die Europäische Union (EU).
  3. Der Beitritt der drei Länder zur NATO (North Atlantic Treaty Organization/ Nordatlantikpakt)

Der erste Punkt ist nicht so banal, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Ein Blick in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts reicht schon aus, um die Motivation der drei Staatsmänner besser zu verstehen. Zwischen den beiden Weltkriegen bestanden insbesondere zwischen den Ländern Mitteleuropas teilweise massive Meinungsverschiedenheiten und Gegnerschaften, die zeitweise sogar in kriegerische Auseinandersetzungen mündeten.

Zugleich war den Politikern dieser Zeit sehr wichtig, mit der Gründung des Visegrád-Dreiecks kein Gegengewicht oder Konkurrenzbündnis zur EG bzw. der EU zu schaffen. Im Gegenteil: Die Zusammenarbeit der Visegrád-Länder sollte allen drei Staaten Vorteile bringen bei deren Bemühen um einen Beitritt zum europäischen Staatenverbund. Auch darin mag ein Grund dafür liegen, warum die Visegrád-Allianz nur über einen marginalen Grad von Institutionalität verfügt.

Ebenfalls verhindern wollten die Gründerväter, dass die drei Länder erneut zu einer Art „Cordon sanitaire“ zwischen dem Westen und Russland würden; der „Drang nach Westen“ war in dieser Zeit unübersehbar und Teil der Staatsräson der jungen post-kommunistischen Länder. Und dieser Drang nach Westen beschränkte sich nicht auf den Beitritt zur Europäischen Union, sondern beinhaltete auch ein starkes sicherheitspolitisches Bedürfnis. Der Beitritt zur NATO war für die Visegrád-Länder ein zentraler Aspekt ihrer außen- und sicherheitspolitischen Ziele. Mit dem Beitritt verband sich die Hoffnung und die Erwartung, eben kein „Cordon sanitaire“ und vor einer wie auch immer gearteten Bedrohung durch die Sowjetunion bzw. Russland geschützt zu sein.

Die geringe Institutionalität des Bündnisses wird auch dadurch deutlich, dass es bis heute keinen formellen Partnerschaftsvertrag gibt. Die Länder-Kooperation basiert auf der sogenannten „Visegrád-Erklärung“ vom 15. Februar 1991 und deren Ergänzung aus dem Jahr 2004, welche die Felder (Tele-)Kommunikation, Wirtschaft, Infrastruktur, Kultur und Ökologie als Schwerpunkte der Zusammenarbeit benennen. Darüber hinaus erklärten die Staaten ihre feste Absicht, Minderheitenrechte auf ihren Territorien zu schützen. Im jährlichen Wechsel koordiniert ein Mitgliedsland die auf verschiedenen Ebenen stattfindenden Treffen und erstellt einen „Jahresarbeitsplan“.

Das Funktionieren der Visegrád-Gruppe hängt seit ihrer Gründung maßgeblich vom jeweiligen Verhältnis der vier Regierungen der Mitgliedsstaaten zueinander ab. Es gab Phasen, in denen die Zusammenarbeit stark abflaute, wie z.B. in den ersten Jahren nach der Trennung der Tschechoslowakei bis 1998, als sowohl in Tschechien als auch in der Slowakei die Regierung wechselte.

International Visegrád Fund

Anlässlich des 10-jährigen Bestehens der Visegrád-Gruppe wurde der „International Visegrád Fund“ ins Leben gerufen. Erklärtes Ziel des Fonds ist es, sowohl die regionale Zusammenarbeit zwischen den Visegrád-Ländern, als auch die internationale Kooperation mit den vier Staaten in den Bereichen Kunst, Kultur und Bildung zu fördern. Die Zusammenarbeit mit Ländern des Balkans und der Östlichen Partnerschaft stehen im Vordergrund.

Finanziert wird der Fonds durch die V4-Staaten und weitere internationale Geber (Kanada, Deutschland, Niederlande, Südkorea, Schweiz, Schweden und die Vereinigten Staaten). Der Fonds ist eine der wenigen institutionalisierten Formen der Zusammenarbeit der Visegrád-Staaten.

NATO-Beitritt

Bereits im März 1999 traten Tschechien, Ungarn und Polen der NATO bei. Die Slowakei folgte fünf Jahre später. Mit der ersten großen EU-Osterweiterung im Mai 2004 hatten die Visegrád-Länder ein weiteres ihrer 1991 definierten Ziele erreicht: Der Beitritt der vier Länder zur Europäischen Union war vollzogen.

Weitere Handlungsfelder

Das Erreichen zweier der ursprünglichen drei Ziele schwächte die Kooperation für ein paar Jahre ab. Eine teilweise Neuorientierung der Visegrád-Gruppe war unvermeidlich. Im Laufe der Zeit kristallisierten sich folgende neuere Handlungsfelder heraus:

  • Die Vertiefung der wirtschaftlichen Integration der EU
  • Gemeinsame Anstrengungen zur Steigerung von Auslandsinvestitionen in den V4-Ländern
  • Stärkung des Systems der kollektiven Sicherheit innerhalb der NATO (und auch der EU)
  • Der Kampf gegen den Internationalen Terrorismus
  • Verstärkte Koordination der V4 in der (europäischen) Energiepolitik
  • Gemeinsame Migrationspolitik

Anhand der genannten Punkte wird deutlich, dass die Zeiten, in der die Visegrád-Gruppe große Ziele verfolgte und an Visionen für die Zukunft arbeitete vorerst vorbei zu sein scheinen. Seit der zweiten Hälfte der 2000er Jahre sind es eher einzelne konkrete Politikfelder, die in den Fokus der Zusammenarbeit rücken.

Visegrád-Battlegroup

Eine weitere institutionelle Verfestigung ergab sich 2011 mit der Gründung der „Visegrád-Battlegroup“ innerhalb des Systems der multinationalen EU-Kampfgruppen. Diese Einheiten, die stets aus Truppen mehrerer EU-Staaten zusammengesetzt sind und abwechselnd in Bereitschaft gehalten werden, dienen in erster Linie als Krisenreaktionskräfte. Die Visegrád-Battlegroup war bereits 2016 und 2019 aktiv. Die nächste Bereitschaftsphase ist für das Jahr 2023 vorgesehen.

Die Flüchtlingskrise

Was die Wahrnehmung von außen betrifft, wurde das Jahr 2015 zu einem Wendepunkt. Die Flüchtlingskrise und der Streit über die Verteilung der Flüchtlinge auf die Länder der Union haben „Visegrád“ erst weit über die Landesgrenzen der Mitgliedsstaaten hinaus bekannt gemacht. Die Regierungen der V4-Staaten nutzten die Möglichkeiten des Bündnisses, um sich als klarer Block gegen eine Vergemeinschaftung der Migrationspolitik zu positionieren. Hierbei spielte eine zentrale Rolle, dass die Ansichten der vier Regierungen und der maßgeblichen handelnden Personen beim Themenkomplex „Migration und Flüchtlinge“ nahezu deckungsgleich waren – und auch heute zu großen Teilen noch sind. Dieser Entwicklung in die Hand gespielt hat nicht zuletzt der Regierungswechsel in Polen im November 2015, als nach beinahe acht Jahren in der Opposition die nationalkonservative PiS-Partei (Recht und Gerechtigkeit) wieder in Warschau an die Macht zurückkehrte. Man darf mit Fug und Recht bezweifeln, dass eine durch die europafreundliche Bürgerplattform (PO) geführte

polnische Regierung eine Zuspitzung des Streits über die Flüchtlingspolitik mit dem Vehikel Visegrád zugelassen bzw. mitgetragen hätte.

Der Wille der vier Mitgliedsländer entscheidet

Mit der Flüchtlingspolitik hatten die Regierungen der Visegrád-Gruppe einen neuen „Kernpunkt“ für V4 ausgemacht, welcher sich hervorragend mit den jeweiligen nationalen Agenden der Staaten vertrug.

Galten die Visegrád-Länder im Westen Europas bis zum Beitritt zu EU und NATO lange als die europapolitischen Musterschüler unter den ehemaligen Ländern östlich des Eisernen Vorhangs, so wurde Visegrád in den letzten Jahren insbesondere bei den „alten“ EU-Ländern geradezu zum Synonym für Euro-Skepsis und wird weithin als Block der Integrationsverweigerer erachtet. Die Führungen der V4-Länder taten in den letzten Jahren ihr übriges, um diese Charakterisierung aufrecht zu erhalten.

Der Wahrheit entspricht dies in weiten Teilen nicht. Zunächst einmal kann die Visegrád-Gruppe an sich kein echter Block mit politischem Gewicht sein, weil hinter Visegrád lediglich vier einzelne Staaten und deren nationale Interessen stehen. Nur wenn die Interessen aller vier Staaten in einem Themenbereich übereinstimmen und die Regierungen beschließen gemeinsam aufzutreten, kann die Visegrád-Gruppe überhaupt als Gemeinschaft agieren. Visegrád ist ein Vehikel, welches helfen kann, übereinstimmende nationale Interessen ihrer Mitgliedsstaaten koordiniert zu artikulieren und voranzutreiben. Mehr aber nicht.

Dass es mit dieser Übereinstimmung in vielen Politikfeldern nicht so weit her ist, konnte man erst jüngst bei den Verhandlungen über den EU-Haushalt und die EU-Coronahilfen beobachten. Am Ende ließen Tschechien und die Slowakei ihre beiden Visegrád-Partner Ungarn und Polen ihren Kampf gegen den „Rechtsstaatsmechanismus“ weitgehend allein führen.

Auch in anderen Bereichen gibt es zwischen den Mitgliedsstaaten unterschiedliche Auffassungen. Beispielhaft seien hier die Beziehungen zu Russland angeführt (Polen und Ungarn haben sehr unterschiedliche Ansichten). Die Debatte um den „Green New Deal“ wird in den Visegrád-Ländern ebenfalls recht unterschiedlich geführt.

Ausblick

Die nahe und weitere Zukunft von Visegrád wird in erster Linie davon abhängig sein, wie sich die Führungen der einzelnen Länder entwickeln. In Tschechien stehen bald Parlamentswahlen an und die politische Zukunft von Ministerpräsident Andrej Babiš ist ungewiss. Es ist durchaus möglich, dass in Prag andere Kräfte ans Ruder kommen können, die weniger Interesse daran haben, Visegrád weiterhin als „Schreckgespenst“ gegen die westlichen EU-Partner zu nutzen. Auch die seit knapp einem Jahr amtierende (recht heterogene) Koalitionsregierung von Igor Matovič in der Slowakei ist ein Unsicherheitsfaktor für das zukünftige geeinte Auftreten in zentralen Politikbereichen. Matovič, der seine eigene Partei OĽaNO gerne in die EVP führen würde, regiert mit Liberalen und Rechtspopulisten gleichermaßen. Fest im Sattel sitzen derzeit noch die erst letztes Jahr wiedergewählten Nationalkonservativen in Polen. Viktor Orbán wird sich 2022 wieder dem Wählerwillen stellen müssen.

Deutschland und der Rest Europas täten gut daran, das Visegrád-Bündnis als das zu sehen, was es tatsächlich ist. Es ist weder Integrationsmotor noch Schreckgespenst. Es ist ein weitgehend informeller Zusammenschluss von Ländern, die durch die Koordination von gemeinsamen nationalen Interessen versuchen, innerhalb der EU, aber auch auf internationaler Bühne, ihre Interessen besser durchsetzen zu können. Die Schlagkräftigkeit, genauso wie Stoßrichtung, ergeben sich ausschließlich aus dem Willen der politisch Verantwortlichen in den vier Ländern.

Für die Visegrád-Länder liegt der Vorteil der Allianz allerdings nicht nur in einer gebündelten Wahrnehmung von Interessen, sondern auch – und das sollte man nicht vergessen – in den aus historischer Sicht dauerhaft verbesserten nachbarschaftlichen Beziehungen.

Autor: Henning Senger

Mitteleuropa, Osteuropa, Russland
N.N.
Leitung