Print logo

Artikel Europa

Schmelztiegel Kasan
Wie aus interreligiösem Dialog politische Gespräche werden können

Autor: Dr. Philipp W. Hildmann
, Jan Dresel

Der „Dialog der Kulturen und Religionen“ zwischen Deutschland und Russland fand in Kasan, der Hauptstadt der Republik Tatarstan, statt. Hier stehen symbolisch für das Zusammenleben von Christen und Muslimen die orthodoxe Mariä-Verkündigungs-Kathedrale und die Kul-Scharif-Moschee nebeneinander. So brachte auch der interreligiöse Austausch christliche und muslimische Vertreter aus beiden Ländern ins Gespräch.

Weitgehend friedlich leben Christen und Muslime in der Republik Tatarstan zusammen

Weitgehend friedlich leben Christen und Muslime in der Republik Tatarstan zusammen

Dr. Philipp W. Hildmann

Das „Allahu akbar“, der traditionelle Gebetsruf, der gläubige Muslime täglich fünfmal zum Gebet mahnt, erschallt nicht von den hoch aufragenden Minaretten der 2005 eröffneten Kul-Scharif-Moschee in Kasan. Nur im Inneren der zweitgrößten Moschee Russlands ist er zu hören, um Menschen anderen Glaubens nicht in ihrem Alltag zu stören. Das Gleiche gilt für die benachbarte Mariä-Verkündigungs-Kathedrale, deren Wurzeln in das 16. Jahrhundert zurückreichen. Auch sie ruft ihre Gläubigen aus Respekt vor Andersgläubigen nicht mit lautem Glockengeläut zum Kasaner Kreml, der zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Beide Bauwerke und der Umgang ihrer Gemeinden miteinander stehen symbolisch für das seit Jahrhunderten weitgehend friedliche Zusammenleben der in etwa gleich großen Gruppen von Christen und Muslimen in der Republik Tatarstan, die zur Russischen Föderation gehört. Gleichzeitig haben, wie in vielen anderen Gegenden der Welt, auch hier in jüngerer Zeit die innerislamischen Konflikte zugenommen und zu Radikalisierungen auf muslimischer Seite geführt.

Vor diesem geschichtlichen Hintergrund fand Anfang Juli 2019 unser Deutsch-Russisches Dialogprogramm „Dialog der Kulturen und Religionen“ in Kasan, der Hauptstadt der Republik Tatarstan, statt. Vorrangiges Ziel war dabei, den zivilgesellschaftlichen Dialog zwischen Deutschland und Russland durch Thematisierung des interreligiösen Austauschs speziell zwischen Christen und Muslimen zu befördern und Vertreter beider Seiten und aus beiden Ländern miteinander ins Gespräch zu bringen. So war nicht unbedingt damit zu rechnen, dass einige der russischen Gesprächspartner von sich aus außen- und sicherheitspolitische, aber auch gesellschaftspolitische Themen ansprechen würden, doch trotz teils konträrer Ansichten führte gerade diese Tatsache zu einer zusätzlichen Belebung und Intensivierung der Gespräche. Von russischer Seite nahmen unter anderen Theothan, Metropolit von Kasan und Tatarstan, der Prorektor der 2017 eröffneten Islamischen Akademie Bolgar sowie hochrangige Vertreter der Föderalen Universität Kasan an den Gesprächen teil. Während die Islamische Akademie Bolgar sich gerade anschickt, eines der führenden akademischen, pädagogischen und spirituellen Ausbildungszentren Russlands zu werden, zählt die Föderale Universität Kasan bereits seit Längerem zu den renommiertesten Hochschulen des Landes.

Jan Dresel, Vertreter der HSS in Moskau, diskutiert mit  Theothan, Metropolit von Kasan und Tatarstan über religiöse Fragen

Jan Dresel, Vertreter der HSS in Moskau, diskutiert mit Theothan, Metropolit von Kasan und Tatarstan über religiöse Fragen

Dr. Philipp W. Hildmann

Angeregter Austausch über unterschiedliche Perspektiven

Sowohl Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche als auch der islamischen Seite zeigten sich äußerst interessiert am Modell der „hinkenden Trennung“ zwischen Staat und Kirchen in Deutschland, das trotz deren grundsätzlicher Trennung Kooperation gestattet und unter bestimmten Umständen sogar erforderlich macht. Besorgnis äußerten sie über den Weg des Westens in das, was sich aus ihrer Perspektive als „Ultraliberalismus der Beliebigkeit“ darstellt. Als Merkmale hierfür nannten sie beispielsweise die 2017 im Deutschen Bundestag beschlossene „Ehe für alle“ oder den Umgang mit alten Menschen. Das Ersetzen des Pflegens und Sterbens im Familienverbund durch ein „Abschieben“ in Altersheime stieß speziell bei den muslimischen Gesprächspartnern auch aus religiösen Gründen auf völliges Unverständnis. Als Hauptunterschied zwischen ihrer Kultur und der „Kultur des Westens“ machten sie ihr vom Kollektiv, von der Familie, vom Clan ausgehendes Denken und im Gegensatz dazu das westliche, vom Individuum ausgehende Denken aus. Grundsätzlich wird in vielen Teilen Russlands – speziell außerhalb der großen Städte und ganz besonders in religiösen und konservativen Kreisen –  der westliche Individualismus sehr kritisch gesehen.

 

Anhand seiner persönlichen beruflichen Stationen skizzierte der Metropolit von Kasan und Tatarstan, Theothan, zentrale Punkte russisch-orthodoxer Außenpolitik in religionssensiblen Gebieten. Während der Anschläge von 9/11 war er etwa in Washington D.C. im Einsatz. Während des sogenannten „Arabischen Frühlings“ arbeitete er in Ägypten. Weitere Stationen seines Wirkens waren Syrien und Jerusalem gewesen. Die Relevanz des Faktors Religion in der Außen- und Sicherheitspolitik wurde im Rahmen dieser Ausführungen evident. Mit Blick auf seinen aktuellen Wirkungsort Tatarstan verwies der Metropolit besonders auf die Wichtigkeit einer Ausgewogenheit der beiden Flügel der Republik Tatarstan, des christlichen und des muslimischen, für das friedliche Zusammenleben dieser beiden Weltreligionen. Kein Flügel dürfe einseitig gekürzt, keiner einseitig verlängert werden, sonst gerate das seit Jahrhunderten meist gut austarierte interreligiöse Gleichgewicht ins Wanken. Auch er wies auf das Ensemble von Kathedrale und Moschee des Kasaner Kremls als bewusstes und gewolltes Symbol für dieses gleichberechtigte und harmonische Miteinander hin. Ein weiterer stabilisierender Faktor sei die hohe Zahl an gemischtreligiösen Ehen. In nahezu jeder Familie gebe es Vertreter der jeweils anderen Religion. Auch der bewusste Verzicht auf Bekehrungsversuche trage zum innergesellschaftlichen Frieden bei.

 

In den Ausführungen des Metropoliten wurden seine Nähe zum Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, und seine eher unkritische Haltung zum Präsidenten Syriens, Baschar al-Assad, sowie zur Rolle beider im Syrienkrieg deutlich. Er kritisierte außerdem die „liberal-demokratischen“ Gesellschaften des Westens, in denen „traditionelle Werte“ wie Familie und Heimatverbundenheit zu kurz kämen. Aus deutscher Perspektive blieb festzuhalten, dass es zwar in jeder Gesellschaft Entwicklungen gebe, die nicht allen gefielen, dass die heutige deutsche Gesellschaftsordnung aber von einer großen Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen geschätzt werde und Werte wie Demokratie und Freiheit zum Grundkonsens der deutschen Gesellschaft gehörten. Auch in anderen westlichen Ländern würden Demokratie und die Freiheit des Einzelnen hochgeschätzt und würden einen großen Beitrag zu gesellschaftlichem Frieden und zur hohen Lebensqualität der Bevölkerung in diesen Ländern leisten.

Angeregte Diskussionen über Politik und Religion führten die Experten des „Dialogs der Kulturen und Religionen“

Angeregte Diskussionen über Politik und Religion führten die Experten des „Dialogs der Kulturen und Religionen“

Dr. Philipp W. Hildmann

Religionen im Dialog

Den deutlichsten Kontrapunkt zur dezidiert politiknahen Haltung des Metropoliten setzte der frühere Abtprimas des Benediktinerordens, Abt Notker Wolf. Die Geschichte der Religionen zeige für ihn in erschütternder Weise, dass jede Religion ein Gewaltpotential in sich berge, sobald sie ihr eigentliches Terrain, den Glauben, verlasse. „Der Glaube muss entpolitisiert werden, wenn wir in Frieden zusammenleben wollen“, so seine Empfehlung, „und die Politik darf den Glauben nicht für Machtzwecke funktionalisieren.“ Zusammenfassend hob Philipp W. Hildmann, für Grundsatzfragen zuständiger Vertreter der Hanns-Seidel-Stiftung, den Stellenwert von Bildung im Allgemeinen und religiöser Bildung im Besonderen hervor, wenn es darum gehe, die Freiheit von Religion- und Weltanschauung weltweit zu erhalten und auszubauen sowie Intoleranz zu bekämpfen. Der Jurist und Islamwissenschaftler Mathias Rohe bilanzierte:

„Es gibt eine alte europäische Erfahrung des friedlichen Zusammenlebens von Christen und Muslimen, die viel zu wenig bekannt ist. In Tatarstan sind noch Schätze zu heben.“

Und Abt Notker Wolf ergänzte:

„Eine andere Welt hat sich aufgetan, in der Christen und Muslime einander achten und zusammenarbeiten in einer Weise, wie wir es uns noch nicht vorstellen können. Neben einem akademischen Dialog muss es immer auch einen existenziellen Dialog des Lebens geben. In Kasan haben wir beides zusammen erlebt.“

Trotz fundamental unterschiedlicher Bewertungen von manchen politischen und gesellschaftlichen Themen, erfolgte der Austausch in offener und vertrauensvoller Atmosphäre, in der ein tieferes Verständnis für die jeweils andere Seite entwickelt werden konnte. Eine Fortsetzung wird der Dialog mit Kasan im September mit einem Deutsch-Russischen Dialogprogramm zum Thema „Föderalismus“ finden. Aber auch die Erfahrungen dieses Landes in Theorie und Praxis des interethnischen und interkulturellen Zusammenlebens sollten weiterhin Aufmerksamkeit finden und in die innerdeutschen Debatten Eingang finden.