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Tunesien
Große Aufgaben für die neue Regierung

Najla Bouden ist die erste Regierungschefin in der Geschichte Tunesiens. Am Montag, dem 11. Oktober 2021, hat sie eine neue Regierung ernannt. Tunesien steht vor großen Herausforderungen.

Im Sommer demonstrierten die Tunesier und protestierten gegen die schlechte wirtschaftliche Lage und das Management der Regierung.

Im Sommer demonstrierten die Tunesier und protestierten gegen die schlechte wirtschaftliche Lage und das Management der Regierung.

Ahmed Zarrouki, Avenue Hbib Bourguiba, Tunis.

15 Tage nach ihrer Ernennung hat Regierungschefin Najla Bouden ihr Team zusammengestellt und am Montag, dem 11. Oktober, bekannt gegeben. Damit hat Tunesien wieder eine Exekutive: 25 Regierungsmitglieder, davon 9 Frauen.

Zweieinhalb Monate zuvor, am 25. Juli, dem Tag der Revolution, hatten noch Tausende Tunesier landesweit die Straßen gefüllt und gegen die Regierung, deren schlechtes Krisenmanagement in der Corona-Pandemie und die sich verschlechternde sozioökonomische Lage demonstriert. „Das Volk will die Auflösung des Parlaments“ oder „Nein zu Hunger, nein zu Armut“, wurde skandiert. Teilweise kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen. In einigen Städten wurden Büroräume der Regierungspartei Ennahda – der Partei, die das Land ununterbrochen seit 2011 regierte, gestürmt und geplündert.

Völlig unerwartet verkündete Staatspräsident Kais Saied in derselben Nacht die Suspendierung des Parlaments, die Aufhebung der Immunität der Parlamentsabgeordneten und die Entlassung von Regierungschef Hichem Mechichi. Mit den Worten „Ich stehe der Staatsanwaltschaft vor, um jede Person, die in einer Rechtssache verwickelt ist, strafrechtlich verfolgen zu können“, gab Staatspräsident Saied zudem seinen Vorsitz der Staatsanwaltschaft bekannt. Per Dekret verordnet wurde diese Bekanntmachung jedoch nicht.

Seit der Verkündung der beschriebenen Sondermaßnahmen und der Ernennung von Najla Bouden zur neuen Regierungschefin ist nicht viel geschehen. Ein politischer Fahrplan wurde nicht bekannt gegeben, auch keine Umsetzung konkreter sozioökonomischer Maßnahmen.

Es folgte eine Reihe von Verhaftungen, Hausarresten und Reiseverboten, die sich v. a. gegen Abgeordnete, Richter und Geschäftsleute richteten. Aufgrund des in Artikel 24 der tunesischen Verfassung von 2014 festgeschriebenen Rechts auf Freizügigkeit, d. h. des Rechtes, seinen Wohnsitz frei zu wählen, sich innerhalb des Landes frei zu bewegen und des Rechtes, das Land zu verlassen, erfuhren die Maßnahmen v. a. von Seiten zivilgesellschaftlicher Organisationen Kritik. Staatspräsident Saied hingegen rechtfertigte die Restriktionen als Teil seiner Bemühungen im Kampf gegen Korruption, durch die er Verdachtspersonen daran hindern könne, aus dem Land zu fliehen. Ein Kampf, für den er von einem Großteil der Bevölkerung geschätzt wird.

Obwohl ursprünglich auf einen Monat befristet, verlängerte Staatspräsident Saied die Sondermaßnahmen am 24. August bis auf Weiteres. Am 22. September nahmen die Pläne von Staatspräsident Saied dann konkrete Gestalt an. Per Dekret verkündete er die Aufrechterhaltung der Sondermaßnahmen für unbestimmte Zeit und weitete seine Befugnisse weiter aus.

Die Exekutivgewalt (Art. 8) übt der Präsident weiter aus. Dabei wird er von einer Regierung unterstützt, deren Mitglieder er selbst ernennt (Art. 16). Die Regierung muss sich fortan ausschließlich dem Präsidenten gegenüber verantworten (Art. 18).

Die Ausweitung der Befugnisse des Staatspräsidenten manifestiert sich im Verlauf des Dekrets weiter. Er ist befugt, Änderungsentwürfe politischer Reformprojekte mit Hilfe einer Expertenkommission, deren Organisation er festlegt, auszuarbeiten (Art. 22). Die Änderungsentwürfe werden vom Staatspräsidenten in einem Referendum zur Abstimmung gestellt. Das Ziel sei es, „ein echtes demokratisches System zu schaffen, in dem das Volk der wahre Träger der Souveränität und Quelle der Macht ist, die er durch gewählte Vertreter oder durch ein Referendum ausübt“ (Art. 22).

Es gibt weder einen zeitlichen Geltungsbereich für die Sondermaßnahmen noch gibt es zeitliche Vorgaben für die Ernennung der Kommission zur Ausarbeitung der Reformprojekte. Die Rechts- und Verfassungsmäßigkeit der verkündeten Sondermaßnahmen ist in Tunesien seit mehreren Wochen und Monaten Gegenstand umfangreicher Debatten.

Reaktionen auf die Sondermaßnahmen

Die Kritik an den Sondermaßnahmen und deren Verlängerung auf unbestimmte Zeit wächst – auch bei Unterstützern. Abir Moussi, Vorsitzende der Partei Destourien Libre (16 von 217 Sitzen im Parlament), die die Maßnahmen des Präsidenten anfangs noch begrüßte, wandte sich nach dem Präsidialdekret vom 22. September vom Präsidenten ab. Damit tat sie es anderen Parteien gleich. Am 23. September ließen die sozialdemokratische Partei Attayar (22 Sitze) sowie andere kleinere und überwiegend nicht im Parlament vertretene Parteien im Rahmen einer gemeinsamen Erklärung verlauten, dass es sich bei den Entscheidungen des Präsidenten um einen „Putsch gegen die Verfassung“ handle, durch den der Präsident seine Legitimität verloren habe. Die links ausgerichtete, panarabische Echaab (16 Sitze) – gemeinsam mit fünf kleineren Parteien – hingegen bleibt bei seinem Standpunkt und unterstützt auch weiterhin die Maßnahmen des Präsidenten, die sie als Reaktion auf die in den vergangenen zehn Jahren erhobenen Forderungen des tunesischen Volkes betrachtet.

Wie positioniert sich die islamische Regierungspartei Ennahda (53 Sitze), die seit 2011 die Geschicke des Landes hauptverantwortlich bestimmt? Sie positionierte sich als eine der Ersten und verurteilte die Maßnahmen bereits am Folgetag des 25. Juli ebenso wie ihr islamisch-konservativer Koalitionspartner Coalition al-Karama (18 Sitze) als Staatsstreich.

Das tunesische Demokratieverständnis

Die Mehrheit der politischen Parteien stellt sich gegen Präsident Saied. Ein großer Teil der Bevölkerung hingegen steht getreu dem Motto „vom Volk gewollt, von der politischen Elite verabscheut“ hinter ihm. Dennoch scheint sich die erste Euphorie bei einigen bereits abzuflachen.

Haben die Tunesier der Demokratie also den Rücken gekehrt? So könnte man sich die positive, ja hoffnungsvolle Stimmung auf den Straßen Tunesiens in der Nacht vom 25. Juli erklären. Doch was sagt die Datenlage hierzu?

Einer repräsentativen Meinungsumfrage von Afrobarometer, einem pan-afrikanischen, überparteiischen Forschungsnetzwerk, zufolge (1) ziehen 73 Prozent der 2020 befragten Tunesierinnen und Tunesier die Demokratie allen anderen Staatsformen vor. Die Mehrheit der Befragten (56 Prozent) lehnt ein Einparteiensystem ebenso wie die Herrschaft eines starken Mannes (50 Prozent) ab.

Tatsächlich ist die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Situation und der Arbeit der Regierung bei den Tunesierinnen und Tunesiern groß. Dies ergab die sechste Umfrage von Arab Barometer im Jahr 2021 (2). Überwältigende 72,2 Prozent der Befragten bewerteten die wirtschaftliche Lage des Landes als „sehr schlecht“. Um die wirtschaftliche Situation des Landes zu verbessern, müsse die Regierung v. a. mehr Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen (29,4 Prozent), die Lebenshaltungskosten senken (21,1 Prozent) und das Bildungssystem reformieren (16, 1 Prozent). Die Korruption auf nationaler Ebene bewerteten sie mit 70 Prozent als in hohem Maße verbreitet.

Aus der Sicht der Tunesier ist das Experiment dieses ersten Demokratieversuchs gescheitert. Die Tunesier stehen offenkundig nicht geschlossen hinter ihrer Demokratie. Das heißt indes nicht, dass der demokratische Prozess an sich gescheitert ist. Andere Teile der tunesischen Gesellschaft reagierten nämlich mit Besorgnis. Sie sehen die Gefahr des Rückschritts zu einem totalitären Regime und halten daran fest, dass der Prozess dringend zu der bislang bestehenden verfassungsmäßigen Ordnung zurückzuführen ist.

Anders als die Regierung befindet sich die tunesische Bevölkerung durchaus in einer Phase der Transition und durch die Proteste ist Vertrauen, gesellschaftlicher Zusammenhalt und Resilienz entstanden: Der ungeschriebene Pakt der Bürger gegen die Regierung schafft Beharrlichkeit und Geschlossenheit in einem antagonistischen System, das seitens der Mehrheit der politischen Elite an einem politischen Wandel nicht interessiert zu sein scheint. Die Ausnahme ist Staatspräsident Kais Saied, zumindest wahrt er den Anschein. Deshalb scheint der Weg „zurück in die Vergangenheit“, hin zu mehr autoritärer Macht, um Reformen zu ermöglichen, der derzeit gangbarste zu sein.

Fazit

Bis vor kurzem galt Tunesien als das Vorzeigebeispiel des demokratischen Übergangs und als Beweis dafür, dass Transition möglich ist und linear verlaufen kann. Vor dem Hintergrund des zunehmenden sozialen Drucks und der Tatsache, dass aus Sicht vieler Tunesier die Demokratie in den vergangenen zehn Jahren keine wirtschaftlichen Verbesserungen gebracht hat, zeichnet sich eine wie auch immer geartete Krisensituation ab. Für die ärmere Bevölkerung hat sich die bereits prekäre Lage vor allem aufgrund enormer Preiserhöhungen nochmals verschlechtert. Für sie gibt es keinen sichtbaren Gewinn aus den zehn Jahren Demokratie.

Im Namen des Konsenses wurden jahrelang kontroverse, aber notwendige Themen wie Wirtschafts- und Sicherheitsreform sowie die Frage der Übergangsjustiz unter den Teppich gekehrt. In zehn Jahren gab es zehn Regierungen, die im Kampf gegen Korruption versagt haben. Von politischen Parteien desillusioniert, wählten die Tunesier 2019 den parteilosen Verfassungsrechtler Kais Saied zum Staatspräsidenten. Die politische Realität der vergangenen Monate vor dem 25. Juli war eine festgefahrene Situation, in der weder eine Regierungsbildung, geschweige denn Konsensbildung möglich waren. Die aus der Sicht des Staatspräsidenten praktisch unumgängliche politische Selbstvergewisserung, die von einem anderen Blickwinkel gesehen, einen Rückgriff auf ein temporäres, quasi-autoritäres Regierungsmonopol darstellt, erfolgt in einer Gemengelage, in der es an erforderlichen, für die Bürger vertrauenswürdigen Institutionen, wie z. B. einem Verfassungsgericht, fehlt. In Präsident Kais Saied sehen viele Tunesier eine Chance auf Besserung der Lage des Landes, zumal er v. a. einen entschiedenen Kampf gegen Korruption verspricht. Der Präsident und seine Regierung stehen unter einem enormen Erwartungs- und Handlungsdruck. Ihnen obliegt es, ein Regierungsprogramm vorzulegen, dass das Potenzial hat, die Lage des Landes und der Bevölkerung spürbar zu verbessern.

Nun hat dieser Prozess gleichwohl die Möglichkeit geschaffen, die offensichtliche Dysfunktionalität und Fragmentierung der bisherigen Regierung zu korrigieren und notwendige Reformen voranzutreiben.

Autorin: Louisa Serghini, Tunesien, HSS

(1) Afrobarometer (2021): Les Tunisiens ont confiance en leurs tribunaux mais pensent que les gens ne sont pas égaux devant la loi. Meldung 455/2021, Im Internet unter : https://afrobarometer.org/sites/default/files/publications/Dispatches/ad455-tunisiens_disent_que_les_gens_ne_sont_pas_egaux_devant_la_loi-depeche_afrobarometer-28mai21.pdf [13.10.2021].

(2) Arab Barometer (2021): AB Wave VI-Part 3-2021. Im Internet unter: https://www.arabbarometer.org/survey-data/data-analysis-tool/ [13.10.2021].

Dr. Faouzi Sboui: „Die wirtschaftliche Entwicklung Tunesiens erfordert neben tiefgreifenden Reformen vor allem die Formulierung eines neuen Gesellschaftsvertrags“

Dr. Faouzi Sboui: „Die wirtschaftliche Entwicklung Tunesiens erfordert neben tiefgreifenden Reformen vor allem die Formulierung eines neuen Gesellschaftsvertrags“

HSS Tunesien 2018

Vor dem Hintergrund der sozioökonomischen Proteste, den Forderungen nach einem Personalwechsel in den demokratischen Institutionen und der kürzlichen Machtübernahme durch Staatspräsident Kais Saied, reden wir mit Dr. Faouzi Sboui über die wirtschaftliche Situation Tunesiens und die Perspektiven des Landes. Das Interview mit  Dr. Sboui hat Louisa Serghini vom Büro der Hanns-Seidel-Stiftung Tunis geführt.

Dr. Faouzi Sboui ist Hochschuldozent an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Management von Mahdia und steht dieser als Dekan seit 2011 vor. Mit der Hanns-Seidel-Stiftung in Tunis arbeitet Dr. Sboui seit 2017 zusammen. Ziel der Zusammenarbeit ist es, einen Beitrag zur Wirtschaftsförderung in Tunesien durch innovative Projektmaßnahmen zu leisten. Dieses Jahr fand der digitale Hackathon zum Thema „Nachhaltige Entwicklung im öffentlichen Raum“ statt. Das Ergebnis: 7 Innovationsprojekte, darunter u. a. ein Projekt zur Entwicklung einer mobilen Anwendung zur intelligenten Abfallentsorgung in den Kommunen und die Konzeption von überdachten Bushaltestellen mit Sonnenkollektoren zur besseren Beleuchtung, Schaffung von Werbeflächen und zur Bereitstellung von Lademöglichkeiten für elektronische Geräte. Im Mittelpunkt der Maßnahme standen junge Unternehmerteams, die auf ihrem Weg zur ausgereiften Projektidee von erfahrenen Coachs und Programmkoordinatoren begleitet und deren fachliche und methodische Kompetenz weitergebildet wurden.

HSS: Was war Ihre erste Reaktion bzw. Ihr erster Gedanke als Sie von der Suspendierung der Parlamentsmitglieder, der Aufhebung ihrer Immunität und der „Machtübernahme“ durch Kais Saied erfahren haben?

Wie jeder tunesische Bürger, der von den Leistungen der Regierung enttäuscht ist und den Stillstand sieht, der vor allem auf die politischen Streitigkeiten zurückzuführen ist, habe ich in den vom Präsidenten verfügten Maßnahmen vom 25. Juli ein Zeichen der Hoffnung - einen Aufruf zur Ordnung - gesehen. Zwei Monate später ist die Situation aber nicht mehr so beruhigend. Die anfängliche Euphorie, die diese Maßnahmen ausgelöst hatten, lässt langsam nach.

HSS: Was sind die wirtschaftlichen Herausforderungen, denen Tunesien derzeit gegenübersteht?

Insgesamt hat sich die sozioökonomische Lage, die die tunesische Revolution im Jahr 2011 ausgelöst hat, nicht verbessert. Im Gegenteil, einige Ungleichgewichte sind stärker geworden. In den vergangenen zehn Jahren hat die Arbeitslosigkeit, insbesondere unter Hochschulabsolventen, zugenommen. Die regionalen und sozialen Ungleichheiten haben sich verschärft. Die Covid-19-Pandemie hat diese Krisensituation noch verschlimmert. Aufgrund der mangelnden Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft hat Tunesien eine sehr starke Verlangsamung der Konjunktur erlebt.

Die wirtschaftlichen Herausforderungen, vor denen Tunesien heute steht, sind vielfältig und komplex. Tunesien wird jedoch weiterhin ohne eine echte Vision oder Strategie zur Bewältigung der vielfältigen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen regiert.

In der unmittelbaren Zukunft stehen die Entscheidungsträger vor der Herausforderung, Ressourcen zu mobilisieren, um den Haushalt für das laufende Jahr abzuschließen. Diese Aufgabe ist besonders schwierig, weil der Internationale Währungsfonds (IWF) zögert, neue Mittel für Tunesien freizugeben. Selbst unter den lokalen Kreditgebern ist das Misstrauen groß.

Daher sind die wichtigsten Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt, zum einen die Verbesserung des Lebensstandards und der Lebensbedingungen der Tunesier durch die Verringerung von Arbeitslosigkeit, Armut, der Inflation sowie der sozialen und regionalen Ungleichheiten. Zum anderen sind Strukturreformen notwendig, um das chronische Ungleichgewicht im Staatshaushalt zu beheben und die Wirtschaft wieder auf den Wachstumspfad zu bringen.

Welche Reformen erachten Sie als notwendig?

Die wirtschaftliche Lage hat sich in den vergangenen zehn Jahren nicht verbessert, weil die aufeinanderfolgenden Regierungen es versäumt haben, notwendige Reformen durchzuführen. Manchmal ist das Prinzip „regieren, um an der Macht zu bleiben“ die Ursache einer solchen Blockade. Die Reformen, die das Land braucht, sind mit unpopulären Maßnahmen verbunden. Zusätzlich blockieren die politische Instabilität, Konflikte zwischen den Machtinstitutionen und der Widerstand der Gewerkschaften die Umsetzung von Reformen.

Die in Tunesien durchzuführenden Reformen sollten sich auf alle Wirtschaftssektoren beziehen. Angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Krise, die damals die Revolution ausgelöst und sich im vergangenen Jahrzehnt noch verschärft hat, müsste das Entwicklungsmodell völlig neu überdacht werden.

Es ist dringend notwendig, Reformen einzuleiten - auch die schmerzhaftesten - um die öffentlichen Finanzen und das Ansehen Tunesiens auf dem internationalen Markt zu sichern. Die Diagnosen der Probleme und die Liste notwendiger Reformen liegen ja praktisch schon auf der Hand. Was fehlt, ist der Mut, etwas zu unternehmen.

Die dringendsten Reformen betreffen öffentliche Unternehmen, die Sozialfonds und Ausgleichsysteme, Steuern, das Investitionsgesetz und die öffentliche Verwaltung.

Andere Reformen, obgleich wichtig, könnten langfristig durchgeführt werden, um Voraussetzungen für ein integratives und armutsorientiertes Wachstum in Tunesien zu schaffen. Sie müssen sich auf die Bildungs-, Berufsausbildungs- und Gesundheitssysteme, die Industriepolitik, den Arbeitsmarkt, den Verkehr, Innovation und die wissenschaftliche Forschung beziehen.

HSS: Sehen Sie in der aktuellen Situation konkrete Chancen für die wirtschaftliche Entwicklung Tunesiens oder ist der Fortschritt Tunesiens im wirtschaftlichen Bereich gefährdet?

Da es keine politische Landschaft gibt, die diese Vorstellung über Reformen flächendeckend befürwortet, wird sich die wirtschaftliche Lage in Tunesien trotz des großen wirtschaftlichen Potenzials und der Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft, das Land in seinem demokratischen Übergangsprozess zu unterstützen, wahrscheinlich weiter verschlechtern.

Der laufende Demokratisierungsprozess in Tunesien sollte eine Gelegenheit sein, um die Engpässe zu überwinden, die bisher die wirtschaftliche Entwicklung des Landes behindert haben. Das derzeitige politische Umfeld, das häufig der Korruption verdächtigt wird und Ursache für die verbreitete Praxis der Vorteilsnahme ist, gefährdet jedoch die Nutzung dieses wirtschaftlichen Potenzials.

Die politische Situation seit der Troika und bis zum 25. Juli war ein Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung Tunesiens. Deshalb wurden die vom Präsidenten der Republik beschlossenen Übergangsmaßnahmen von den meisten Tunesiern als Gelegenheit begrüßt, „einen Schritt zurückzutreten, um besser springen zu können“. Bislang wurde aber weder eine Vision präsentiert noch ein Wirtschaftsprogramm vorgelegt.

Während wir die Programme und Maßnahmen der neuen Regierung abwarten, bleibt die Erholung der wirtschaftlichen Lage ungewiss.

Darüber hinaus wirft die unklare politische Konstellation nach dem 25. Juli Fragen hinsichtlich des Handlungsspielraums der Regierung und ihrer Fähigkeit auf, das Vertrauen der tunesischen und ausländischen Investoren zu gewinnen. Der Slogan der Korruptionsbekämpfung, der vom Präsidenten der Republik und sogar von der neuen Regierungschefin häufig verwendet wird, sendet zweifellos eine positive Botschaft an alle Wirtschaftsakteure hinsichtlich der Zielsetzung Tunesiens das Geschäftsklima zu verbessern. Die wirtschaftliche Entwicklung Tunesiens erfordert jedoch neben tiefgreifenden Reformen vor allem die Fertigung eines neuen Gesellschaftsvertrags im Rahmen einer klaren und verbindenden Vision zur Überwindung der Wirtschaftskrise und der sozialen Not. Zweitens muss Tunesien der internationalen Gemeinschaft eine klare und beruhigende Botschaft senden, dass es zurück ist.

HSS: Wir bedanken uns für das Interview!

Naher Osten, Nordafrika
Claudia Fackler
Leiterin
Uta Staschewski
Projektleitung