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Chile
Soziale Unruhen

Autor: Jorge Sandrock

Seit Wochen gibt es in Chile landesweite Demonstrationen und Zerstörungen. Präsident Sebastián Piñera kündigte in deren Folge ein tiefgreifendes Reformpaket an, doch die Chilenen protestieren weiter.

Seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahre 1990 hat sich Chile zunehmend als Musterland in Lateinamerika profiliert. Wirtschaftlich und politisch blieb es stabil und machte Fortschritte bei der Armutsbekämpfung, politisch kann das Land eine konsolidierte Demokratie mit gut funktionierenden Staatsinstitutionen und Parteien vorweisen.

Paradoxerweise sind ökonomische Wachstumsraten, eine gefestigte Demokratie und gut funktionierende Institutionen nicht mit einer breiten Akzeptanz und Zufriedenheit der Gesellschaft einhergegangen. Zahlreiche Demonstrationen zu unterschiedlichsten Themen im vergangenen Jahrzehnt offenbarten vielmehr, dass die Bürger immer größere Forderungen stellten. Auf diese konnten Parteien und Staat bisher keine zufriedenstellenden Antworten geben. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung über das Erstarken der Eliten und über die Ergebnisse der bisher durchgeführten wirtschaftlichen, sozialen und rechtsstaatlichen Reformen wuchs konstant.

Viele Bürger fühlen sich von Wohlstand und Demokratie ausgeschlossen. Laut Umfragen stehen zwei Drittel der Chilenen ihrem neoliberalen Wirtschaftsmodell kritisch gegenüber, weil die soziale Ungleichheit so groß ist. Obwohl es in Chile in den vergangenen 30 Jahren gelungen ist, die Armutsrate von 36,6 auf 10,7 Prozent zu reduzieren (Quelle: Umfrage CASEN 1990/Studie CEPAL 2018), kann das Land bei der Verringerung der Ungleichheit keine großen Fortschritte vorweisen (Gini-Koeffizient 1990 = 0,572 / 2017 = 0,466). Laut Gini-Koeffizienten befindet sich Chile auf dem zehnten Platz der Länder Lateinamerikas mit der höchsten Einkommensungleichheit (Quelle: Weltbank). Bildung und Gesundheit in privaten Einrichtungen sind sehr teuer und das öffentliche Angebot ist von schlechter Qualität. Das Rentensystem und die Sozialpolitik müssten nach sozialen Kriterien neu ausgerichtet werden.

Eine Menge von Menschen mit Fahnen ziehen auf einen Platz

Die Chilenen gehen seit Wochen auf die Straße und demonstrieren. Ging es zunächst um die Erhöhung der Preise für Metro-Tickets, so entlädt sich jetzt der Zorn der Bürger über die ungleichen sozialen Verhältnisse

HSS/Jorge Sandrock

Ausbruch der Unruhen

Seit Mitte Oktober 2019 erlebt das bisherige Musterland Chile eine erschreckende Gewaltwelle. Fotos von brennenden U-Bahnstationen und Zügen, Geschäften, Supermärkten, Autos und Bussen sowie Straßenbarrikaden gingen um die Welt.

Direkter Auslöser der Proteste war eine Erhöhung der Preise für U-Bahntickets um ca. 3 Euro-Cent (800 auf 830 Pesos). Schüler und Studenten riefen in der Hauptstadt dazu auf, die Fahrpreise nicht zu zahlen. Infolge der Ausschreitungen wurden 93 U-Bahnstationen (von insgesamt 136) stark beschädigt, sieben davon total zerstört. Der Schaden an dem U-Bahnnetz, dem modernsten in Lateinamerika, wird auf rund 360 Millionen USD beziffert.

Die Regierung nahm daraufhin die Preiserhöhung zurück. Inzwischen war aber die Situation eskaliert. Die Kundgebungen und Ausschreitungen hatten sich im ganzen Land ausgebreitet.

Staatschef Sebastian Piñera rief in der Nacht vom 18. Oktober den Ausnahmezustand aus. Laut der chilenischen Verfassung ermöglicht dieser eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit und des Versammlungsrechts. Auch wird die Kontrolle der Regionen oder Provinzen den Streitkräften übergeben. Angesichts der anhaltenden Unruhen wurde der Ausnahmezustand in 14 Regionen (von insgesamt 16) des Landes ausgerufen und eine Ausgangssperre für die wichtigsten Städte des Landes verhängt.

Trotz Ausnahmezustand und Ausgangssperre gingen die gewaltsamen Auseinandersetzungen sowie Plünderungen und Brandstiftungen landesweit weiter.Mehr als 3.200 Personen wurden verhaftet und ca. 1.000 verletzt. Bisher liegt die Zahl der Toten bei 21 Personen (Quelle: Instituto Nacional de Derechos Humanos).

Die Aktion gegen das Transportnetz der Hauptstadt sowie die Angriffe gegen strategische Knotenpunkte und Branchen gibt zur Vermutung Anlass, dass es sich hierbei um chilenische radikale Gruppierungen handeln könnte, eventuell mit Unterstützung ausländischer Akteure.

Ankündigung von Reformen

Vier Tage nach Beginn der Unruhen kündigte Präsident Piñera am 22. Oktober bei einer Fernsehansprache Reformen an. Auch traf er sich mit den Präsidenten der Abgeordnetenkammer, des Senats und des Obersten Gerichtshofs. Doch die Oppositionsparteien schätzten die angekündigten Reformen als nicht ausreichend ein: Die Vorsitzenden der kommunistischen und der sozialistischen Partei sowie des Linksbündnisses Frente Amplio – sie verteidigten teilweise die gewalttätigen Proteste – weigerten sich, an Gesprächen mit der Regierung teilzunehmen. Sie forderten den Rücktritt von Präsident Piñera und die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung.

Nachdem am Freitag, den 25. Oktober, in Santiago die größte Demonstration in der chilenischen Geschichte mit rund 1,2 Millionen Menschen stattgefunden hatte, entschied sich Präsident Piñera für eine Kabinettsumbildung. Auch wenn unter anderen der Innenminister, der in Chile Kabinettschef ist, sowie der Finanz- und der Wirtschaftsminister ausgewechselt wurden, schätzen Experten die Kabinettsumbildung als nicht ausreichend ein. In wichtigen Bereichen, wie Bildung und Gesundheit, unternahm Präsident Piñera keine Änderungen.

Vom neuen Kabinett wurde bereits eine strukturelle Reform des Rentensystems sowie eine Besteuerung der großen Einkommen und Vermögen angekündigt. Weiterhin wurde ein Gesetz zur Anhebung der Mindestrente und des Mindestlohns verabschiedet, die Arbeitsstunden wurden von 45 auf 40 pro Woche reduziert und die Gehälter von Parlamentariern und hohen Staatsbeamten gesenkt.

Nachdem die Regierung ihre Bereitschaft angekündigt hatte, eine neue Verfassung zu erarbeiten, wurde von den politischen Parteien eine Vereinbarung getroffen, im April 2020 ein Referendum durchzuführen. Die Bürger können sich dann für oder gegen eine neue Verfassung entscheiden. Sollte das Votum für eine neue Verfassung fallen, dann müssen die Bürger den Mechanismus zur Erarbeitung der Verfassung bestimmen, d.h., sollen Parlamentarier und gewählte Delegierte (gemischte Konvention) oder nur gewählte Delegierte (Verfassungskonvention) den neuen Verfassungstext erarbeiten.

Präsident Sebastián Piñera

Trotz Reformen und Ankündigungen liegt die Unterstützung für Präsident Sebastián Piñera laut der letzten Umfrage Cadem bei nur 13 Prozent. Hingegen missbilligen 79 Prozent der Chilenen den Präsidenten.

Inzwischen wurde gegen Präsident Piñera ein Amtsenthebungsverfahren von Abgeordneten der kommunistischen Partei und des Linksbündnisses Frente Amplio beantragt. Eine Anklage wegen Menschenrechtsverletzungen wurde ebenfalls eingereicht. Die diesbezüglichen Ermittlungen wurden von der Staatsanwaltschaft bereits eingeleitet.

Auch wenn sowohl der Versuch der Amtsenthebung als auch die Anklage keine Erfolgsaussichten haben, so leisten sie einen maßgeblichen Beitrag zur weiteren Polarisierung der chilenischen Bevölkerung.

Erst im März 2018 war Präsident Piñera ins Amt eingeführt worden. Das bedeutet, es bleiben noch zweieinhalb Jahre bis zum Ende seiner Amtszeit. Ob Piñera und seine Regierung bis März 2021 durchhalten, ist derzeit eine offene Frage.

Chile
Jorge Sandrock
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Esther J. Stark
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