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HSS-Interview
Venezuela - ein Land in der Krise

Die ideologische Wirtschaftspolitik der Regierung Maduro ruiniert den ehemals reichen Erdölstaat. Die Bevölkerung hat politisch resigniert, die Opposition ist gespalten. Ist Veränderung auf demokratischem Wege so überhaupt noch möglich?

Venezuela erlebt momentan die gravierendste politische, soziale und wirtschaftliche Krise seiner Geschichte. Nach dem Tod des charismatischen linken Staatspräsidenten Hugo Chávez im Jahr 2013 befindet sich die „Bolivarische Revolution“ unter seinem Nachfolger Nicolás Maduro in einer schweren Legitimitätskrise. Die von Ideologie geprägte, ökonomische Realitäten ausblendende Wirtschafts- und Finanzpolitik zeigt verheerende Auswirkungen: Mindestens 87 Prozent der Venezolaner leben heute unter der Armutsgrenze. Dabei war das Land einmal ein reicher Erdölstaat.

Im Interview: Benjamin Bobbe

Benjamin Bobbe leitet die Projekte der Hanns-Seidel-Stiftung in Venezuela und Kolumbien. Ein Schwerpunkt des Politik- und Verwaltungswissenschaftlers liegt dabei auf der Demokratieförderung durch Parlamentsberatung, Jugend- und Frauenförderung sowie der Förderung deren politischer Partizipation. Außerdem setzt er sich für mehr Sicherheit für Bürger und die Fortbildung der Polizeikräfte ein. Auch der Friedensdialog in Kolumbien ist ein Schwerpunkt seiner Arbeit. Bobbe war am 26. Juni 2018 zu Gast im Münchner Konferenzzentrum der Hanns-Seidel-Stiftung und schilderte bei der Veranstaltung Perspektivwechsel „Venezuela - ein Land in der Krise“ seine Sicht auf die aktuelle Lage. Bei dieser Gelegenheit führte Prof. Dr. Klaus G. Binder, Leiter des Lateinamerika-Referats der HSS, das folgende Interview.

Jüngerer Mann in gut sitzendem Anzug und ordentlich gebundener Krawatte an einem Rednerpult vor einer Stellwand mit dem HSS-Logo und Motiven aus Südamerika. Ernster Blick.

Nicolás Maduro scheint Venezuela in einen Mafiastaat umzubauen. Der Drogenhandel blüht. "Wer diese Hintergründe kennt, versteht auch, warum sich die Regierung so rücksichtslos an die Macht klammert." (Benjamin Bobbe, HSS)

Witte; HSS

HSS: Die venezolanische Opposition ist gespalten. Was ist aus dem Parteienbündnis „Mesa de la Unidad Democrática“ geworden? Wollen die oppositionellen Kräfte Venezuelas überhaupt gemeinsam agieren?

Benjamin Bobbe: Es gibt bei der Opposition durchaus weiterhin Bemühungen, gemeinsam zu agieren. Die Ausgangslage ist jedoch kompliziert: Die Opposition ist sehr pluralistisch und hat große Schwierigkeiten, sich auf eine gemeinsame Strategie zu einigen. Das Wahlbündnis „Mesa de la Unidad Democrática“ besteht aus mehr als einem dutzend Parteien, die fast das gesamte Spektrum von Mitte-Links bis Rechts abdecken. Es besteht ein Grundkonflikt in der Frage, wie ein politischer Wandel erreicht werden kann. Dabei existieren zwei Denkschulen: Die einen sagen, angesichts der fehlenden rechtsstaatlichen Garantien und permanenten Rechtsbrüche ist die Regierung Maduro kein Verhandlungspartner mehr. Das sind auch die Parteien, welche die mehrmonatigen Proteste des Jahres 2017 angeführt haben, durch die sie den Wandel erzwingen wollten. Letztendlich ohne Erfolg. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die über den Dialog auch kleine Fortschritte und Erfolge suchen und zu größeren Zugeständnissen bereit sind. Diese Gruppe hat bei den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im Mai dieses Jahres sogar einen Gegenkandidaten gestellt, musste aber angesichts der bei diesen Wahlen vorgefallenen Unregelmäßigkeiten einsehen, dass dieser Weg nicht erfolgversprechend ist. Beide Seiten und die internationale Staatengemeinschaft erkennen die Wiederwahl Maduros nicht an. Mit der „Frente Amplio Venezuela Unido“ hat sich kürzlich ein vielversprechendes neues Bündnis gebildet, das neben den bedeutendsten Oppositionsparteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen auch Chavisten umfasst, die mit der Regierungspolitik unzufrieden sind. Der Chavismus ist kein monolithischer Block mehr und Teile treten in den Dialog mit der Opposition. Das Ziel muss es sein, gemeinsam wieder mit der Regierung ins Gespräch zu kommen.  


HSS: Lässt sich in Venezuela ein Regierungswechsel auf demokratischem Weg herbeiführen oder taumelt das Land unweigerlich in einen Bürgerkrieg?  

Nicht unbedingt. Mitte 2017, also auf dem Höhepunkt der Proteste, war das Land einem Bürgerkrieg näher als heute. Es herrscht derzeit weitestgehend Apathie unter der Bevölkerung. Viele Menschen haben sich nach dem Scheitern der Proteste frustriert aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Das Land steht allerdings vor dem wirtschaftlichen Kollaps, was natürlich Auswirkungen auf die Gesprächsbereitschaft von Regierung und Opposition haben wird. Entscheidend wird sein, wie sich die US-Regierung künftig verhalten wird. Teile der Opposition würden eine US-amerikanische Intervention in Venezuela begrüßen, die ich aber derzeit für unwahrscheinlich halte. Der stärkste Hebel für die USA bleiben die bestehenden Sanktionen, die auf das staatliche Erdölunternehmen PDVSA abzielen, indem vor allem dessen Refinanzierungsmöglichkeiten stark eingeschränkt werden. Diese wurden jüngst nochmals verschärft, so dass die Lage äußerst kritisch ist. Sage und schreibe 95 Prozent der Deviseneinnahmen Venezuelas stammen aus dem Erdölgeschäft. Zugleich sind die USA aber weiterhin der größte Abnehmer für venezolanisches Erdöl. Ein etwaiger Importstopp würde die venezolanische Wirtschaft endgültig zusammenbrechen lassen. Es ist aber fraglich, ob die Regierung Trump bereit ist, diesen Schritt zu gehen. Denn schließlich würde der Benzinpreis für die US-amerikanischen Konsumenten ansteigen.  


HSS: Verfolgen die venezolanischen Gewerkschaften eine einheitliche politische Linie? Sind sie eher pro oder kontra Maduro?

Die meisten Gewerkschaften stehen der Regierung sehr kritisch gegenüber, beispielsweise die Lehrergewerkschaften. Bereits die Vorgängerregierung unter Hugo Chávez hat sich bemüht, die Gewerkschaften gleichzuschalten. Wo man es nicht geschafft hat, die Gewerkschaften auf Regierungslinie zu bringen, wurde versucht, sie auszuschalten oder aber Parallelstrukturen zu schaffen, sodass die Gewerkschaftslandschaft heute gespalten ist. Auch die Universitäten sollten übrigens gleichgeschaltet werden, was jedoch nicht gelang. Die venezolanischen Universitäten sind Trutzburgen des Widerstands gegen die Bolivarische Revolution und es ist dem Chavismus bis heute nicht gelungen, die Universitäten für sich zu vereinnahmen. Mit der riesigen und landesweit präsenten Universidad Bolivariana wurde schließlich eine neue Massen-Universität gegründet, die jedoch mehr ideologische Kaderschmiede als ein Hort akademischer Bildung ist.  


HSS: Venezuela hat seit dem Tod von Hugo Chávez an außenpolitischem Einfluss verloren. Stehen China und Russland Venezuela in seiner Krise bei?

Beide Länder müssen als wirtschaftliches Rückgrat Venezuelas gesehen werden, sie sind die größten Kreditgeber. Geld gegen Erdöl lautet hier das Geschäftsmodell. Die Lieferverpflichtungen Venezuelas gegenüber beiden Staaten belaufen sich auf etwa 70 Milliarden US-Dollar und gehen weit in die Zukunft. Neue Kredite erhält Venezuela von beiden Ländern inzwischen nicht mehr. Im vergangenen Jahr wurden nur die Rückzahlungskonditionen nachverhandelt und für Venezuela verbessert, um den unmittelbaren Staatsbankrott abzuwenden. Die beiden Gläubiger-Länder verfolgen unterschiedliche Ziele. Für China geht es in erster Linie um den Zugang zum Erdöl, es besteht ein primär wirtschaftliches Interesse. China ist lateinamerikaweit sehr aktiv und sichert sich den Zugang zu Ressourcen, die das Land für sein Wirtschaftswachstum benötigt. Im Falle Russlands stehen heute geopolitische und vor allem machtpolitische Interessen im Vordergrund. Unter Chávez hat Venezuela von Russland viele Rüstungsgüter gekauft, dafür fehlt aber inzwischen das Geld. Lateinamerika ist der Hinterhof, also die traditionelle Interessensphäre der USA. Durch die Beziehung zu Venezuela hat Russland ein Bein auf dem Kontinent und kann schon allein dadurch die USA mächtig ärgern. Russland geht es in erster Linie darum, die Regierung Maduro zu stützen und den Status quo zu wahren. China ist da sehr viel pragmatischer, ist besorgt um seine Investitionen und steht daher auch in ständigem Kontakt mit Wirtschaftspolitikern und Beratern der Opposition. Zudem würde China auch nach einem politischen Wandel mit einer gänzlich anderen Regierung vertrauensvoll zusammenarbeiten.    


HSS: Es gibt Anzeichen, dass Mitglieder der politischen Elite Venezuelas in den internationalen Drogenhandel verstrickt sind. Hat Staatspräsident Maduro seine Regierung zu einem Drogenkartell umgebaut?

Nach den vorliegenden Informationen, unter anderem der US-amerikanischen Drogenpolizei DEA und des US-Finanzministeriums, scheint dies so zu sein. Die Verwicklungen in den Drogenhandel haben die USA dazu veranlasst, eine Vielzahl von bedeutenden Politikern auf die Negativliste des US-Finanzministeriums zu setzen und mit Sanktionen zu belegen, darunter an prominentester Stelle Tarek El Aissami, bis vor kurzem Vizepräsident. Diosdado Cabello, ehemaliger Parlamentspräsident und heute zweiter Mann der sozialistischen Regierungspartei PSUV, gilt laut US-Regierung als Kopf des größten Drogenkartells des Landes, dem Cartel de los Soles, welches aus aktiven und ehemaligen führenden Militärangehörigen besteht. Die Liste ließe sich fortführen. Die Verbindungen reichen nachweislich bis ins engste familiäre Umfeld von Präsident Maduro. Zwei Neffen seiner Ehefrau, einer davon Ziehsohn des Präsidentenpaares, wurden im Jahr 2016 von einem New Yorker Gericht zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Sie hatten, mit venezolanischen Diplomatenpässen ausgestattet, versucht, mit einem Privatflugzeug 800 kg Kokain von Haiti in die USA zu schmuggeln. Das alles scheint nur die Spitze des Eisbergs zu sein. Wer diese Hintergründe kennt, versteht auch, warum sich die Regierung Maduro so rücksichtslos an die Macht klammert.  


HSS: Akute Versorgungsengpässe zwingen täglich zehntausende Venezolaner, ihre Heimat in Richtung Kolumbien zu verlassen. Kolumbien droht von der Flüchtlingswelle überrollt zu werden. Noch nehmen die meisten Kolumbianer ihre venezolanischen Brüder und Schwestern mit offenen Armen auf. Wie lange noch?

Die Kolumbianer sprechen in der Tat, wenn es um die Venezolaner geht, von „Brüdern“ und „Schwestern“. Das zeigt sehr deutlich die enge historische, kulturelle und sprachliche Verbundenheit zwischen den beiden Völkern. Die Kolumbianer haben zudem nicht vergessen, dass Venezuela zu Zeiten des bewaffneten Konflikts in Kolumbien viele Millionen kolumbianische Flüchtlinge und Vertriebene aufgenommen und sehr fürsorglich behandelt hat. Jetzt wollen sie davon etwas zurückgeben. Die Voraussetzungen für Integration sind daher grundsätzlich gut. Andererseits hat die Integrationsfähigkeit Kolumbiens natürlich auch Grenzen und diese liegen in der finanziellen Leistungsfähigkeit des Staates. Die Gesundheitskosten bereiten derzeit große Sorgen und die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarkts ist beschränkt. Die Herausforderungen sind gewaltig, denn schließlich sind in jüngster Zeit mehr Menschen von Venezuela nach Kolumbien ausgewandert als von Deutschland im Zuge der aktuellen europäischen Flüchtlingskrise bisher aufgenommen worden sind. Mehr als 90 Prozent der Venezolaner in Kolumbien haben keinen geklärten Aufenthaltsstatus. Die am 7. August 2018 ihr Amt antretende neue kolumbianische Regierung hat angedeutet, nach einem lateinamerikaweiten Verteilungsmechanismus für die Flüchtlinge mittels Kontingenten suchen zu wollen und orientiert sich dabei explizit auch am Konzept von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Voraussetzungen für einen Erfolg sind in Lateinamerika deutlich besser als in Europa. Dies aus kulturellen Gründen, aber auch, da gerade die rechtskonservativen Regierungen in der Region die Venezolaner nicht in erster Linie als Wirtschaftsflüchtlinge betrachten, sondern zuvorderst als Opfer eines die Menschenrechte missachtenden, links-populistischen Machtkartells.


HSS: Sehr geehrter Herr Bobbe, wir danken Ihnen für das Gespräch und wünschen Ihnen für Ihre Arbeit weiterhin viel Erfolg.

Autor: Prof. Dr. Klaus Binder

Lateinamerika
Esther J. Stark
Leiterin
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