Wohl niemandem in Kirgisistan mit seinen 6,5 Millionen Einwohnern wäre es vorher in den Sinn gekommen, dass sich in nur einem Jahr das politische System und die politische Führung des Landes vollkommen ändern würden.
Der Ärger großer Bevölkerungsschichten in Kirgisistan über das Ergebnis der umstrittenen Parlamentswahl vom 4. Oktober 2020 gipfelte in breiten Protesten am folgenden Tag. Nachdem die Zentrale Wahlkommission auch auf Druck der Straße hin die Wahl schließlich am 06. Oktober 2020 für ungültig erklärt hatte, entstand zunächst ein politisches Machtvakuum.
Schon am 15. Oktober 2020 trat der noch amtierende Präsident SooronbaiJeenbekov, dem vorgeworfen wurde, bei den Wahlen seine Neutralitätspflicht verletzt zu haben (Unterstützung der Partei seines Bruders), zurück. Bei den anschließenden notwendig gewordenen Präsidentschaftswahlen vom 10. Januar 2021 wurde Sadyr Japarov wie schon in den Wahlprognosen erwartet, mit 79,18 Prozent der Stimmen gewählt.
Sadyr Japarov als neuer Ministerpräsident bestätigt
Zuvor hatte das (jetzt ehemalige) Parlament nach langen Diskussionen Sadyr Japarov bereits als neuen Ministerpräsidenten bestätigt. Der 52jährige gilt als stark national orientierter kirgisischer Politiker. Noch in der Nacht der Unruhen nach den Parlamentswahlen war er von seinen Anhängern aus dem Gefängnis befreit worden, in dem er seit 2017 eine elfeinhalbjährige Haftstrafe verbüßte (Verurteilung wegen von ihm angeführter gewalttätiger Proteste gegen die kanadische Goldmine Kumtor im Jahre 2013).
Verfassungsreferenda und Übergang zur präsidialen Republik
Begleitet war die Wahl am 10. Januar 2021 auch von einem Verfassungsreferendum, in dem die Wähler gefragt wurden, ob sie ein präsidiales oder parlamentarisches Regierungssystem bevorzugten. Die erste Variante bekam von 83,29 Prozent der abgegebenen Stimmen Unterstützung.
Am 11. April 2021 folgte dann das eigentliche Verfassungsreferendum über die Umwandlung Kirgisistans von einer parlamentarischen in eine präsidiale Republik– mit starken Befugnissen des Präsidenten und schwindendem Einfluss des Parlaments.
Was noch ausstand, waren Parlamentswahlen. Diese wurden am 28. November 2021 abgehalten. Im Vorfeld hierzu hatte es zahlreiche verfassungsmäßige und gesetzgeberische Änderungen gegeben. So wurde die Zahl der nationalen Abgeordneten von 120 auf 90 reduziert. Das neue kirgisische Wahlrecht ist eine Verbindung von Wahlkreiswahl und Listenwahl. Die Wähler hatten zwei Stimmen, eine für einen Direktkandidaten in insgesamt 36 Wahlkreisen und eine für 54 Kandidaten über die landesweiten Listen der Parteien.
Die Teilnahme von 321 Kandidaten für ein Einzelmandat und 21 kirgisischen politischen Parteien wurden von der Zentralen Kommission für Wahlen und Referenda der Kirgisischen Republik bestätigt. Der einmonatige Wahlkampf konnte beginnen. Dieser muss im Vergleich zu früheren Wahlen als verhalten beurteilt werden, wobei eine starke Nutzung von sozialen Medien zu verzeichnen war. Gesetzliche Verstöße, wie der Versuch von Stimmenkauf, wurden registriert, blieben aber auf Ausnahmen beschränkt.
Auffällig war, dass bei den an der Wahl teilnehmenden politischen Parteien die in den vergangenen 30 Jahren dominierenden Gruppierungen fast gänzlich fehlten (Sozialdemokratische Partei Kirgisistans, Ata-Zhurt – Heimatland, Respublika – Republik, Kyrgyzstan – Kirgisistan). Hier war es zu einer echten Zäsur gekommen. Dem Wähler teilweise noch wenig bekannte neue politische Parteien traten nun in den Vordergrund.
Die Wahl selbst war auch nach Ansicht der über 700 internationalen Wahlbeobachter professionell und transparent organisiert. Jedoch lag die Wahlbeteiligung bei nur knapp 35 Prozent.
Sechs Parteien gelang bei den Wahlen der Sprung über die landesweite Fünf-Prozent-Hürde: Ata Zhurt Kyrgyzstan (16,44 Prozent der Wählerstimmen), Ishenim (13,2 Prozent), Yntymak (10,65 Prozent), Alliance (8,07 Prozent), Bütün Kyrgyzstan (6,58 Prozent) und Yiman Nuru (5,95 Prozent). Die vier Erstplatzierten sind neue politische Gruppierungen, über die außer den Namen von einigen wenigen bereits früher politisch aktiven Gründungsmitgliedern wenig bekannt ist. Lediglich Bütün Kyrgyzstan ist eine der älteren Parteien des Landes mit dem Wählerpotential vor allem im Süden des Landes. Yiman Nuru ist von religiösen Gruppen dominiert und nutzte auch die Moscheen für ihren Wahlkampf. Welche parlamentarischen Mehrheitskoalitionen sich hier nun ergeben werden, darüber kann heute nur spekuliert werden. Wichtig hierbei wird auch die Position der teils parteilosen 36 einzeln gewählten neuen Parlamentarier sein.
Autor: Dr. Max Georg Meier, Hanns-Seidel-Stiftung, Projektleiter Zentralasien.Der Autor nahm an den Parlamentswahlen als internationaler Wahlbeobachter teil.