100 Tage Regierung Bolojan
Rumänien am Limit
Nach 100 Tagen im Amt steht die Regierung unter Premierminister Ilie Bolojan vor einer Mammutaufgabe: Sie muss nicht nur den Haushalt konsolidieren, sondern Rumänien umfassend modernisieren.
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Rumänien steht vor einer doppelten Zerreißprobe: Das Rekorddefizit von 9,3 % des Bruttoinlandsprodukts zwingt die neue Regierung unter Premierminister Ilie Bolojan, PNL (Partidul Național Liberal) zu einem harten Konsolidierungskurs. Gleichzeitig mobilisieren große Gewerkschaften gegen die Sparpolitik und das Vertrauen in staatliche Institutionen ist auf einen historischen Tiefstand gesunken. Laut aktuellen Umfragen liegt die rechtsextreme Partei AUR mit über 40 % Zustimmung nunmehr klar an der Spitze.
Politischer Neubeginn nach turbulenten Wahlen
Der Regierungsbildung gingen äußerst turbulente Präsidentschaftswahlen voraus. Nach einem annullierten ersten Wahlgang setzte sich im Mai 2025 der parteiunabhängige Nicușor Dan durch. Er setzte sich in einem international beobachteten Wahlkampf durch, der von russischer Einflussnahme und dem späteren und bis heute umstrittenen Ausschluss des Erstwahlgangs-Siegers Călin Georgescu überschattet war. Ein zentrales Thema im Wahlkampf war daher auch die Bekämpfung von Desinformation.
Im semipräsidentiellen System Rumäniens setzt das Staatsoberhaupt in Abstimmung mit der Parlamentsmehrheit den Premierminister ein.
Am 23. Juni 2025 wurde das Kabinett von Premierminister Bolojan vereidigt, getragen von einer breiten Koalition aus konservativer PNL, PSD (Sozialdemokratische Partei), USR (Union zur Rettung Rumäniens) und der ungarischen Minderheitenpartei UDMR sowie den weiteren nationalen Minderheiten, die im Parlament vertreten sind. Die neue Regierung muss einen schwierigen Spagat meistern: Konsolidierung des Haushalts und gleichzeitig die gestiegenen NATO-Verpflichtungen erfüllen. Rumänien führt im negativen Sinne viele EU-Statistiken an: höchste Inflationsrate, höchster relativer Anstieg der Verschuldung und größtes Haushaltsdefizit. Die Ursache hierfür sind völlig aus dem Ruder gelaufene öffentliche Ausgaben.
Zwei Austeritätspakete in Rekordgeschwindigkeit
Bereits im August trat das erste Sparpaket in Kraft: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 19 auf 21 %, zusätzliche Verbrauchersteuern, die Streichung von Steuervergünstigungen, Kürzungen im öffentlichen Dienst sowie neue Abgaben im Energie- und Digitalsektor. Kritiker bemängeln, dass das Paket per Vertrauensvotum ohne öffentliche Debatte beschlossen wurde – für viele Bürger ein autoritärer Akt. Gewerkschaften reagierten mit massiven Protesten.
Ende August folgte ein zweites Paket, das die Verwaltungsreform in den Fokus stellte. Besonders betroffen sind strukturschwache Regionen, wo zahlreiche Stellen im öffentlichen Dienst wegfallen. Die Zivilgesellschaft reagierte hier jedoch deutlich verhaltener – Experten sprechen von einer „Mobilisierungsmüdigkeit“.
Demokratie unter Druck
Kritiker warnen, dass die Regierung im Reformeifer demokratische Standards gefährdet: Notverordnungen ohne öffentliche Konsultation, mangelnde Transparenz bei Haushaltsentscheidungen und die Marginalisierung der zivilgesellschaftlichen Organisationen sind besorgniserregende Signale.
Parallel dazu verschiebt sich die politische Landschaft massiv: Die AUR unter Führung von George Simion profitiert von wachsendem Frust und Korruptionsvorwürfen gegen die etablierten Parteien. Dabei nutzen sie die Politikverdrossenheit der Menschen und den Wunsch nach grundlegenden Veränderungen in der politischen Landschaft.
Der Trend der letzten Monate zeigt eine klare Konsolidierung der AUR. Seit September hat die AUR ihre Zustimmungswerde gegenüber dem Vorjahr auf rund 40 % verdoppelt während die Regierungsparteien auf dramatische 13 bis 20 % gefallen sind. Politikwissenschaftler sprachen daher auch von einem „Misstrauensvotum gegen das alte Kartell“.
Die große rumänische Diaspora hat sich in besonderer Weise der extremen Rechten zugewandt: Georgescu erhielt dort rund 60 % der Stimmen. Entscheidend war laut ersten Studien das Zusammenspiel von Frust über die etablierten Parteien, identitätspolitischen Fragen und einer intensiven Social-Media-Präsenz. Diese Kanäle wirken als Brücke in die Heimat und verstärken transnationale Narrative, die häufig mehr auf Emotionen und Identitätsfragen als auf überprüfbaren Fakten beruhen.
Nostalgie und Polarisierung
Besorgniserregend ist auch die wachsende Kommunismus-Nostalgie im Land. Eine repräsentative Umfrage von INSCOP Research zeigt: 66 % der Befragten halten den Diktator Nicolae Ceaușescu für einen „guten Führer“. Diese nostalgischen Einstellungen korrelieren stark mit niedrigem Einkommen, geringer formaler Bildung und ländlichem Wohnort.
Die AUR greift diese Sehnsucht nach „Ordnung“ und „sozialer Sicherheit“ rhetorisch auf - unterstützt von konservativen Stimmen in der Rumänisch-Orthodoxen Kirche. Die Kirche ist in Rumänien seit jeher ein bedeutender politischer Machtfaktor und viele Vertreter hatten zuletzt sogar eine Wahlempfehlung für den später ausgeschlossenen Kandidaten Georgescu abgegeben, dessen Anhänger nun in großer Zahl zur AUR wechseln.
Ein bedeutender Faktor bei der gesellschaftlichen Polarisierung ist das Bildungssystem. Rumänien hat die höchste Schulabbrecherquote der EU. Die ungleiche Verteilung von Bildungsressourcen ist laut EU-Daten die höchste in Europa. Diese massiven Defizite verschärfen soziale Ungleichheit, schwächen die gesellschaftliche Resilienz und bieten Nährboden für Populismus, Verschwörungstheorien und Paternalismus. Nur rund 23 % eines Jahrgangs beginnen ein Hochschulstudium, weit unter dem OECD-Durchschnitt.
Ausblick
Nach 100 Tagen im Amt steht die Regierung Bolojan vor einer Mammutaufgabe: Sie muss nicht nur den Haushalt konsolidieren, sondern Rumänien umfassend modernisieren, damit das Land den Anschluss an Europa nicht verliert. Und sie muss das Vertrauen der Bevölkerung in demokratische Institutionen und politische Führung zurückgewinnen. Der öffentliche Druck auf die Regierung, konkrete Ergebnisse in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und Justizreform zu liefern und die Zivilgesellschaft dabei einzubinden, wird daher weiter zunehmen.
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